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Freiheit heute
Frauenförderung und Diversitätsförderung
ermöglichen freie Wissenschaft!

Ein Gastartikel von Prof. Dr. Christiane Schwieren – Professorin für Organisationsverhalten, Gleichstellungsbeauftragte der Universität Heidelberg

Was ist freie Wissenschaft?

Im Grundgesetz heißt es „Wissenschaft, Forschung und Lehre sind frei“. In der Regel wird darunter verstanden, dass Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler frei von staatlicher oder sonstiger Einflussnahme im Rahmen der Verfassung ihre Forschung ausüben und veröffentlichen können. Sie dürfen Inhalte und Methoden ihrer Forschung frei bestimmen, kontroverse Ergebnisse veröffentlichen und zur Diskussion stellen. Dies gilt auch für die Lehre, in der die Studierenden die wissenschaftliche Methode, ihre Ergebnisse und deren Diskussion und Weiterentwicklung lernen.

In der philosophischen Diskussion wird diese Art der Freiheit – ohne Einflussnahme von außen – als „Freiheit von“ oder „negative Freiheit“ bezeichnet. Daneben gibt es die „Freiheit für“ oder „positive Freiheit“: Sie bezieht sich darauf, dass jemand frei ist, etwas tun zu können oder sich zu entfalten. Auch die braucht es im Bildungssystem und der Wissenschaft. Hier wird die Gleichstellung von Frauen (und allen anderen!) wichtig.

Wissenschaft von und für alle(n)?

In der Realität können sich leider immer noch nicht alle Menschen frei dafür entscheiden, eine wissenschaftliche Ausbildung zu beginnen oder sogar zu forschen. Strukturelle Beschränkungen, die nichts mit der grundsätzlichen Eignung für die Wissenschaft zu tun haben, halten viele davon ab: unter anderem Frauen und Mütter.

Studieren, promovieren, eine Postdoktorand*innen-Zeit machen, an Konferenzen im In- und Ausland teilnehmen, um neue Perspektiven zu gewinnen – all das erfordert finanzielle und zeitliche Ressourcen, Netzwerke und hohe Flexibilität. Dazu birgt es viele Risiken: Risiken, die junge Männer – eventuell mit familiärer finanzieller Absicherung – eher eingehen können als junge Frauen – vielleicht mit Fürsorgeverantwortung oder aus Familien, die sie nicht finanziell unterstützen können. Im deutschen Wissenschaftssystem wird erst mit Mitte-Ende 30 klar, ob die wissenschaftliche Karriere in einer festen Anstellung an einer Universität mündet, oder ob nach Ablauf einer befristeten Anstellung ein ganz neuer Karriereweg gesucht werden muss. Dieses Risiko einzugehen, ist für manche Menschen leichter als für andere. Das liegt nicht an ihrer wissenschaftlichen Kreativität oder ihren akademischen Fähigkeiten.

Chancengerechtigkeit, oder „Freiheit für“, ist also ein Grund, warum freie Wissenschaft und Gleichstellung untrennbar verbunden sind.

Wenn nur die männliche Perspektive betrachtet wird

Ein weiterer Grund: Gute Wissenschaft zeichnet sich unter anderem dadurch aus, dass verschiedene Perspektiven eingebracht und mit wissenschaftlichen Methoden getestet werden. Wenn Wissenschaft nur von Männern gemacht wird, fehlen Perspektiven, die von vielfältigen Lebensrealitäten geprägt sind. Das limitiert Forschungsfragen, -designs und -gegenstände. Und es kann schwerwiegende Folgen haben: So wurde zum Beispiel in der Medizin lange zu einem Großteil an Männern geforscht. Doch manche Krankheitsbilder stellen sich bei Frauen anders dar als bei Männern. Das kann im schlimmsten Fall tödlich enden: wie etwa beim Herzinfarkt, der bei Frauen häufiger unerkannt bleibt als bei Männern, weil er sich durch andere Symptome ausdrückt.

Medikamente müssen erst seit den Neunzigerjahren auch an Frauen getestet werden, obwohl klar ist, dass sie aufgrund hormoneller Unterschiede anders wirken können. Auch in anderen Feldern, z.B. der Produktgestaltung, führt eine rein männliche, oft auch weiße und westliche Perspektive häufig dazu, dass Produkte auch nur für diese Personen optimiert sind. Algorithmen künstlicher Intelligenz, die hauptsächlich mit von Männern generierten Inhalten lernen, haben folglich auch eine „männliche“ Perspektive und geben dadurch Vorurteile und von Männern geprägte Denkmuster weiter.

Das gilt natürlich nicht nur in Bezug auf Männer und Frauen, auch die Unterrepräsentation weiterer Gruppen kann dazu führen, dass wichtige und interessante Perspektiven keinen Eingang in die Wissenschaft finden.

Die Wissenschaft ist damit nicht so gut, wie sie sein könnte, und auch nicht so frei: Es wird zwar nicht aktiv Einfluss darauf genommen, dass bestimmte Perspektiven keinen Eingang finden, aber strukturelle Ausschlussmechanismen verhindern es.

Wenn so viele Argumente für Diversität in der Wissenschaft sprechen – warum ist sie dann nicht selbstverständlich?

Das liegt an den schon erwähnten strukturellen Hürden, zum Teil auch an etwas, das die Psychologie als „Kognitive Verzerrungen“ bezeichnet. Wir Menschen haben begrenzte kognitive Ressourcen und können nur eine bestimmte Menge an Informationen verarbeiten. Wir brauchen „Abkürzungen“ oder „Faustregeln“, damit wir in der Lage sind, Entscheidungen zu treffen. Zu diesen gehören auch Stereotype – zum Beispiel Vorstellungen davon, wie ein „Wissenschaftler“ ist. Stereotype basieren darauf, was Menschen in ihrer Umwelt wahrnehmen und lernen – und da Wissenschaftler über lange Zeit vor allem (weiße) Männer waren, scheinen uns diese als besonders „passend“.

Um nicht dem Stereotyp entsprechende Personen als genauso geeignet zu erkennen, müssen wir uns stärker anstrengen, müssen uns bewusst mit unserer Voreingenommenheit und unserem Normdenken auseinandersetzen. Und genau da können Gleichstellungspolitiken ansetzen: Sie zwingen uns, genau hinzuschauen, damit wir tolle Wissenschaftlerinnen und ihre Ideen nicht übersehen.

Christiane Schwieren

Christiane Schwieren

Christiane Schwieren ist Professorin für Organisationsverhalten und Gleichstellungsbeauftragte der Universität Heidelberg. 

„Neben der Gleichstellungsarbeit forsche ich zu verschiedenen Aspekten in Bezug auf Frauen in der Arbeitswelt, zu Frauen in der Wissenschaft, zu Stress und psychischer Gesundheit und zu Kooperation.

Bei meiner Tätigkeit als Gleichstellungsbeauftragte, vor allem auch im Austausch mit anderen Gleichstellungsbeauftragten aus ganz Europa, merke ich, dass Diversität in Meinungen und Erfahrungen wahnsinnig inspirierend, aber auch sehr anstrengend sein kann. Dabei nehme ich jedes Mal auch wieder viele neue Ideen für meine Forschung mit.“

Christiane Schwieren

Die hier veröffentlichten Inhalte und Meinungen der Autorinnen und Autoren entsprechen nicht notwendigerweise der Meinung des Wissenschaftsjahres 2024 – Freiheit.​