Leichte Sprache
Gebärdensprache

Freiheit heute
Ohne Barrieren frei und
selbstbestimmt leben

Ein Gastartikel von Verena Bentele.

Seit 2009 sichert die UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) Menschen mit einer Behinderung die volle gesellschaftliche Teilhabe zu. Davon ist Deutschland weit entfernt. Barrieren verhindern, dass Menschen mit Behinderung selbstbestimmt leben können. Damit sich das ändert, muss fehlende Barrierefreiheit als Diskriminierungstatbestand im Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz gelten.

In Deutschland leben ungefähr 10,3 Millionen Menschen mit einer anerkannten Behinderung. Sie treffen täglich und vielerorts auf Barrieren, die ihre gleichberechtigte Teilhabe am gesellschaftlichen Leben verhindern.

So suchen Menschen mit einer Behinderung oft lange nach einer Arztpraxis, die erreichbar ist und über eine passende Ausstattung verfügt. Viele Arztpraxen sind etwa nur über Stufen zugänglich, sie sind nicht auf kleinwüchsige Menschen eingestellt. Übersetzungen in Gebärden- oder Leichte Sprache sucht man meist vergeblich. Ähnlich schwierig sieht es auf dem Wohnungsmarkt aus. Das Angebot an barrierefreien Wohnungen ist klein und oft nicht bezahlbar. Diese Beispiele zeigen deutlich: Menschen mit Behinderungen haben oft keine Wahlfreiheit – nicht bei der freien Arztwahl, nicht bei der Wahl des Wohnortes –, weil Barrieren sie daran hindern.

Recht auf gesellschaftliche Teilhabe

Seit 2009 ist Deutschland durch die UN-BRK verpflichtet, umfassende Barrierefreiheit in allen Lebensbereichen zu schaffen beziehungsweise im Einzelfall sogenannte „angemessene Vorkehrungen“ zu treffen. Solche angemessenen Vorkehrungen können helfen, bestehende Barrieren zu überwinden. Das kann eine Rampe sein, ein Faltblatt in Leichter Sprache oder ein Bescheid in Blindenschrift. Ziel der UN-BRK ist es, Menschen mit Behinderung vor Ausgrenzung und Diskriminierung zu schützen und ihnen eine gleichberechtigte Teilhabe zu ermöglichen.

Dass hierzulande die Vorgaben der UN-BRK nur unzureichend umgesetzt werden, hat im vergangenen Sommer die Staatenprüfung des UN-Menschenrechtsausschusses eindrücklich gezeigt. Der UN-Ausschuss prüft weltweit und regelmäßig die Umsetzung der UN-BRK – und stellt Deutschland regelmäßig ein schlechtes Zeugnis aus: Menschen mit Behinderung werden in der Gesundheitsversorgung und in der Bildung ausgegrenzt, sie können nur eingeschränkt an Mobilität, am Wohnen und am Arbeitsmarkt teilhaben. Immer wieder werden sie Opfer von Gewalt und Diskriminierung. Ihr Rechtsschutz muss dringend verbessert werden. Hier braucht es ein niedrigschwelliges Schlichtungsverfahren und Schutzlücken müssen konsequent geschlossen werden.

Alle Menschen haben das Recht auf gesellschaftliche Teilhabe in allen Lebensbereichen.

Verena Bentele
Präsidentin des Sozialverband VdK Deutschland

Barriereunfreiheit als Diskriminierung

Alle Menschen haben das Recht auf gesellschaftliche Teilhabe in allen Lebensbereichen. Dafür ist Barrierefreiheit eine Grundvoraussetzung, unabhängig davon, ob es sich um Angebote öffentlicher Träger oder privater Anbieter handelt. Im Bereich der privaten Güter und Dienstleistungen ist der Nachholbedarf jedoch enorm. So ist im Behindertengleichstellungsgesetz geregelt, dass es Menschen mit Behinderung benachteiligt, wenn ihnen die Träger öffentlicher Gewalt angemessene Vorkehrungen verweigern, solange diese nicht unverhältnismäßig sind. Für private Wirtschaftsakteure gilt dies jedoch nicht. Damit fehlt ein entscheidender Hebel, um Barrierefreiheit in Deutschland umfassend umzusetzen.

Die Bundesregierung hat angekündigt, im Behindertengleichstellungsgesetz eine Verpflichtung der privaten Anbieter zur Barrierefreiheit zu verankern. Nach Ansicht des Sozialverband VdK Deutschland ist diese Reform ein absolutes Minimum, um den Alltag der Menschen zu verbessern. Doch sie reicht nicht aus. Um Menschen mit Behinderung wirksam vor Ausgrenzung zu schützen, muss es als Diskriminierungstatbestand gelten, wenn Barrierefreiheit fehlt oder unzureichend ist, beziehungsweise, wenn angemessene Vorkehrungen im Einzelfall versagt werden. Dafür ist eine Reform des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes notwendig. Dann könnten Verstöße als Diskriminierung geahndet werden. Obwohl die Ampelparteien eine solche Reform in ihrem Koalitionsvertrag vereinbart haben, ist seitdem nichts mehr geschehen. Statt einer Reform hat das Justizministerium lediglich eine Evaluation angekündigt.

Die Freiheit der Wahl

Auch konkrete Handlungsschritte sind notwendig: Damit Menschen mit Behinderung – so wie Menschen ohne Behinderung auch – die Freiheit haben, ihre Ärztin oder ihren Arzt und ihren Wohnort zu wählen, muss die Bundesregierung dringend die Barrieren im Gesundheitswesen und im Wohnungsbau beseitigen:

Sie muss zügig den Aktionsplan für ein diverses, inklusives und barrierefreies Gesundheitswesen vorlegen. Hier müssen alle Einrichtungen und Angebote der medizinischen Versorgung barrierefrei nutzbar sein. Es muss sichergestellt sein, dass Menschen mit Behinderung verlässliche und detaillierte Auskünfte zur Barrierefreiheit in allen Einrichtungen im Gesundheitswesen erhalten. Hier sind die Kassenärztlichen Vereinigungen in der Pflicht für die niedergelassenen Ärzte und die Bundesländer für die stationären Einrichtungen, dies umzusetzen.

In Deutschland fehlen mehr als zwei Millionen barrierefreie Wohnungen. Um diesen eklatanten Mangel zu beheben, müssen Bund und Länder zunächst den Bestand sowie den Neubau systematisch erfassen und den Bedarf an barrierefreien Wohnungen ermitteln. Im Mehrparteienwohnungsbau müssen alle Neubauten barrierefrei gestaltet werden. Barrierefreiheit muss in der sozialen Wohnraumförderung als verbindliche Fördervoraussetzung im Wohnraumförderungsgesetz genannt werden. Zudem sollte das bewährte KfW-Programm „Altersgerecht umbauen“ auf Dauer angelegt und die finanziellen Mittel auf jährlich mindestens 500 Millionen Euro erhöht werden.

Verena Bentele

Verena Bentele

Verena Bentele ist Präsidentin des Sozialverband VdK Deutschland. Ihre Schwerpunkte sind soziale Gerechtigkeit, Rente, Pflege, Gesundheit, Behinderung und Frauen. Vor ihrer politischen Laufbahn war Verena Bentele erfolgreiche Leistungssportlerin im Langlauf und Biathlon. Sie gewann unter anderem zwölfmal Gold bei den Paralympics und viermal Gold bei den Weltmeisterschaften.

Nachweise: SGB V

IW zum Wohnungsmangel

Verena Bentele

Die hier veröffentlichten Inhalte und Meinungen der Autorinnen und Autoren entsprechen nicht notwendigerweise der Meinung des Wissenschaftsjahres 2024 – Freiheit.​