Die Ansprüche steigen

Sprechblase "Gesellschaft muss Debatte führen"

Was bedeutet Gesundheit heute? Kann Gesundheitsforschung den gestiegenen Erwartungen gerecht werden? Wer soll von Gesundheitsgütern profitieren? Politik und Forschung können diese Fragen nicht allein beantworten - auch die Gesellschaft ist gefragt.

Karl M. Einhäupl, Vorstandsvorsitzender der Charité - Universitätsmedizin Berlin:

„An der WHO-Definition gefällt mir der positive Ansatz, es geht nicht nur um das Fehlen von Krankheiten, sondern um ein umfassendes Wohlbefinden. Interessant ist auch unsere kulturelle Geschichte, die unsere Vorstellung von Gesundheit prägt. Im Mittelalter sprach man vom ‚Gleichgewicht der Säfte’, in der jüngeren Geschichte wurde dann ein ‚Krieg gegen die Krankheiten’ geführt, bis sich Anfang des 20. Jahrhunderts eine eugenische Vorstellung vom Gesundheitswesen durchsetzte.

Für mich sind drei Komponenten wichtig: die seelische, die körperliche und die soziale Gesundheit. Wobei die Grenzen von Gesundheit zur Krankheit fließend sind. Gesundheit ist ein konditionales Gut, ohne dieses Gut sind Menschen nicht konkurrenzfähig. Dies rechtfertigt den in hohem Maße regulierten Markt für Gesundheitsgüter. In Zukunft werden auch wirtschaftliche Gesichtspunkte diskutiert werden müssen. Früher gab es die großen Durchbrüche in der Forschung: Röntgen, Computertomografie, Kortison haben jeweils die medizinische Forschung „revolutioniert“. Heute haben wir eine inkrementelle Entwicklung: Die Forschung macht kleine und allerkleinste Schritte. Auch kleine Schritte sind in ihrer Summe innovativ, die Aids-Präparate sind ein Beispiel dafür. Diese inkrementelle Entwicklung bringt enorme Kosten mit sich. Manch ein weiterentwickeltes Medikament ist drei Prozent besser, aber 500-mal teurer. Wer möchte dem Betroffenen das beste Medikament verwehren? Das sind gesellschaftliche Debatten, die geführt werden müssen. Die Frage ‚Wer bekommt Gesundheitsgüter?’ kann nicht der Arzt allein beantworten. Künftige soziale Systeme müssen dafür eine Lösung finden.“

Sprechblase "Mit 80 Jahren Marathon laufen"

 

Urban Wiesing, Direktor des Instituts für Ethik und Geschichte der Medizin an der Universität Tübingen:

„Wir haben trotz aller naturwissenschaftlichen Erkenntnisse keinen unstrittigen Begriff von Gesundheit und Krankheit. Die Definition der WHO beispielsweise, die Gesundheit als einen Zustand des vollständigen körperlichen, geistigen und sozialen Wohlergehens und nicht nur als das Fehlen von Krankheit und Gebrechen bestimmt, ist zu ambitioniert und deshalb unbrauchbar. Wer ist nach dieser Definition schon ‚gesund’? Gesundheit und Krankheit sind deontologische Begriffe: Sie beschreiben nicht nur, sie werten auch. Deshalb kann die Wissenschaft auch nur bedingt zu einer Definition beitragen. Kranksein als Ereignis der Lebenswelt und der Leiblichkeit ist von einer ursprünglichen Evidenz und gegen eine wissenschaftliche Thematisierung in gewisser Weise ‚widersetzlich’, wie es der Philosoph Hans-Georg Gadamer einmal formulierte. Denn die Bewertung, ob ein Mensch krank oder gesund ist und demgemäß verändert werden soll, kann er in der Regel nur selbst anhand seiner Empfindungen vornehmen. Und die Menschen sind nun einmal vielfältig. Deswegen haben Behinderte immer wieder darauf verwiesen, dass sie Behinderung als eine Form der Gesundheit verstehen und nicht pathologisiert werden wollen. Die Problematik wird durch neue Technologien noch verschärft, es steigen die Ansprüche. Ist jemand, der mit 80 Jahren keinen Marathon mehr laufen kann, nun gesund oder krank? Zudem besteht heute die große Herausforderung für den Gesundheitsbegriff in der prädiktiven Medizin, also der Vorhersage von individuellen Krankheitswahrscheinlichkeiten durch die genetische Analyse. Dadurch kann plötzlich ein jeder Bürger zu einem Kranken werden – und das halte ich für gefährlich.“

 

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