Wo liegt die Grenze zwischen gesund und krank?

Portrait Klaus Michael Meyer-Abich

Klaus Michael Meyer-Abich vom Institut für Philosophie der Universität Duisburg-Essen ist Autor des Buches „Was es bedeutet gesund zu sein – Philosophie der Medizin“. Der Naturphilosoph wählt bewusst den Blick des Außenseiters auf den medizinischen Forschungsbetrieb.

Wer sich überarbeitet hat und eigentlich mal etwas Ruhe brauchte, hat oft auch noch körperliche Beschwerden. Man fühlt sich leicht erkältet, oder der Magen grimmt ein bisschen, und auch der Rücken macht sich wieder bemerkbar. Das alles ist aber natürlich nicht so schlimm, und mit ein paar Tabletten kriegt man's leicht wieder weg. Dazu haben wir ja die moderne Medizin! Gegen die Abgespanntheit hätte sie auch noch ein Aufputschmittel zu bieten. Wäre es aber nicht eigentlich doch besser, sich erst mal etwas Ruhe zu gönnen, um wieder zu sich und zu Kräften zu kommen? Man braucht sich ja nicht gleich ins Bett zu legen. Ein ordentlicher Spaziergang hilft meist sogar viel besser, die Unruhe aus dem Kopf herauszuziehen und sie sich mit den Beinen abzulaufen. Das Magengrimmen gibt sich dabei von alleine, und auch die Erkältung braucht einen nicht erst umzuwerfen. Wenn man dann noch gut geschlafen hat, kehrt auch die Arbeitsfreude wieder zurück.  

Beschwerden zulassen um Krankheiten zu vermeiden

So aber machen es die meisten Menschen nicht, und auch in den Betrieben sagen nur die wenigsten Chefs zu einem Mitarbeiter, der sich besonders verausgabt hat: „Nun bleiben Sie morgen mal zu Hause und entspannen sich mit etwas, das Ihnen guttut!“ Wenn das dann aber immer so weitergeht, bleibt's irgendwann nicht mehr bei den kleinen Beschwerden, die noch leicht zu heilen oder zu unterdrücken sind, sondern dann kommt man nicht mehr so einfach davon. Die meisten Menschen, die niemals wieder richtig zu sich kommen, plagen schließlich schwere Rückenbeschwerden oder andere chronische Erkrankungen, manchmal aber gibt's auch einen Paukenschlag wie zum Beispiel einen Herzinfarkt.

An diesen Erfahrungen zeigt sich nun schon: Die Grenze zwischen gesund und krank liegt da, wo es besser wäre, eine Krankheit zuzulassen, als sie zu unterdrücken. Denn zuerst hat man meist nur einen Anflug von Beschwerden, aber wer ihn unterdrückt, überschreitet die Grenze, merkt das allerdings erst später.

Leider versteht sich das heutige Gesundheitswesen kaum darauf, wie man gar nicht erst krank wird. Es ist deshalb im Wesentlichen nur ein Krankheitswesen. Zwar ist die Medizin in der Behandlung vieler Krankheiten — vor allem der akuten und schweren, weniger der Alltagsbeschwerden — bewundernswert erfolgreich. In vielen Fällen und vielleicht sogar meistens brauchte es aber gar nicht erst so weit zu kommen. Mir ist dies klar geworden, als ich erfahren habe, dass in großen Behörden oder Unternehmen die Krankheitshäufigkeit und die Sterblichkeit der Beschäftigten am unteren Ende der Hierarchie bis zu viermal so groß ist wie die der Höhergestellten. Die Gründe für diese Diskrepanz sind im wesentlichen die mangelnde Anerkennung und die zu geringen Gestaltungsspielräume der unteren Beschäftigungsgruppen, wenn sie nichts oder zu wenig zu sagen haben. Sollten wir dann aber nicht erst mal etwas an den Arbeitsverhältnissen ändern, statt abzuwarten, bis die Leute körperlich krank werden und sie dann medizinisch kurieren zu lassen?  

„Bin ich gesund oder krank oder sind wir es?“

Medizinisch behandelt werden immer nur Individuen, und dies auch nur körperlich, aber Gesundheit und Krankheit sind in Wahrheit Charaktere unserer Gemeinsamkeit oder unseres Mitseins mit anderen Menschen und mit der natürlichen Mitwelt. Gesellschaftlich zeigt sich dies — wie eben angedeutet — unter anderem an den Arbeitsverhältnissen. Ein anderes Beispiel ist, dass die Krankheitshäufigkeit in verschiedenen Städten stark davon abhängt, ob die Menschen ein Grundvertrauen zueinander haben und dementsprechend freundlich miteinander umgehen, oder ob sie einander eher misstrauisch und feindselig begegnen.  

Auf die Frage: „Bin ich gesund oder krank oder sind wir es?“, lautet die Antwort also in der Regel: Ich bin es nicht allein, sondern es liegt auch an meinen beziehungsweise unseren mitmenschlichen Verhältnissen. Ein partnerschaftliches Zusammenleben etwa ist normalerweise für beide gesund. Diese Gesundheit ist also eine gemeinsame, und wenn einer stirbt, folgt oft auch der andere bald nach. An einer Partnerschaft aber können auch beide erkranken. Dann hilft es ganz sicher nicht, beispielsweise der Frau, die jedes Mal Bauchschmerzen bekommt, wenn sie ihren ungeliebten Mann nach Hause kommen hört, etwas Medizinisches für ihren Magen zu verordnen.  

Viele Menschen wird es überraschen, dass Gesundheit und Krankheit darüber hinaus sogar Charaktere unseres Verhältnisses zur Natur, das heißt unseres natürlichen Mitseins sind. Deshalb werden Kranke, die aus dem Fenster auf Bäume blicken, schneller und leichter — d.h. mit weniger Schmerzen und Medikamenten — wieder gesund als andere. Mit dem natürlichen Licht ist es gegenüber fensterlosen Räumen genauso. Umgekehrt kann man am Lichtmangel sogar erkranken. Wegen dieser — meist unbewussten — Empfindsamkeit, die wir alle trotz der vielen zivilisatorischen Abschirmungen noch aus unserer Naturgeschichte in uns haben, ist der eingangs empfohlene Spaziergang auch gesünder als irgendein bloßes Körpertraining, das nicht auch die Seele bewegt.

„Was fehlt Ihnen?“

Es zeigt sich also: In der ärztlichen Frage „Was fehlt Ihnen?“, liegt eine verborgene Weisheit. Denn was einem „fehlt“, ist nicht die Erkältung, das Magengrimmen oder irgendein Schmerz, denn diese Beschwerden hat man ja gerade und möchte sie loswerden. Was aber wirklich „fehlt“, ist z.B. die Anerkennung der eigenen Arbeit, die Liebe in der Partnerschaft oder in der Familie, eine gute Atmosphäre in der Stadt oder ein lebendiges Verhältnis zur natürlichen Mitwelt — zu einem Tier, zum Garten, zu einem Fluss oder zur übrigen Landschaft. Wenn es der Seele, die den Leib zusammenhält, in diesen Beziehungen an etwas „fehlt“, wird man schließlich medizinisch krank, meistens aber brauchte es nicht so weit zu kommen. Wahrscheinlich sterben viel mehr Menschen an Einsamkeit als an dem Krebs, der schließlich hinzukommt.

Dass einem etwas fehlt, an dessen Mangel man körperlich erkranken könnte, zeigt sich deutlich, wenn man an die Grenze zwischen gesund und krank gerät und die Sprache des Leibs versteht. Das Gute an dieser Grenze ist, dass sie zu spüren ist, wenn es einem nicht an Aufmerksamkeit gebricht, und dass es meistens noch ein Zurück gibt.

 

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