„Physiotherapie statt Medizin?!“

Portraet Michael Glaeske Michael Glaeske, Versorgungsforscher an der Universität Bremen

Die Versorgungsforschung untersucht die Alltagstauglichkeit von klinischen Ergebnissen. „Sie kann klinische Forschungen in anderem Licht erscheinen lassen und wirkt somit als Korrektiv“, betont Prof. Dr. Gerd Glaeske. Der 65-jährige Versorgungsforscher lehrt an der Universität Bremen. Von 2003 bis 2009 gehörte der studierte Pharmazeut dem Sachverständigenrat zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen an.

Jeder interessiert sich für seine Gesundheit, weshalb die Medien viel über medizinische Forschung berichten. Von Versorgungsforschung ist aber selten zu hören. Woran liegt das?
Gerd Glaeske: Meine Erfahrung ist: Man kann die Bedeutung bestimmter Forschungsrichtungen dann angemessen darstellen, wenn sie entsprechend gefördert werden. Bei der klinischen Forschung gibt es ökonomische Interessen an den Ergebnissen, dadurch gibt es auch sehr viele Fördermittel.

Und bei der Versorgungsforschung?
Gerd Glaeske: Da herrscht oft eher die Skepsis: Wem nutzt das? Denn Versorgungsforschung prüft ja die Alltagstauglichkeit: Sind klinische Ergebnisse, die unter speziellen Rahmenbedingungen erzielt wurden, auf den Versorgungsalltag übertragbar? Ich sehe Versorgungsforschung deshalb als die andere Seite der Medaille der klinischen Forschung: Sie kann durchaus korrigierend wirken und hochgelobte klinische Ergebnisse in anderem und kritischerem Licht erscheinen lassen. Wer ökonomische Interessen hat, möchte dieses Risiko natürlich nicht gerne eingehen.

Umso mehr sollte doch der Gesellschaft insgesamt an Versorgungsforschung gelegen sein.
Gerd Glaeske:
Deshalb haben wir in unserem letzten, 2009 erstellten Gutachten des Sachverständigenrats Gesundheit auch mehr Versorgungsforschung angemahnt! Dort werden Fragen untersucht, die wirklich relevant sind, gerade aus Sicht des Patienten: Wie kann Versorgung verbessert, Lebensqualität gesteigert werden? Welche unnötigen Therapien sollten vermieden werden, weil sie unerwünschte Effekte haben und zu allem Überfluss unnötig Geld kosten? Ein Beispiel: Bei Rheumaerkrankungen wäre es wichtig zu wissen, ob unterm Strich nicht vielleicht Physiotherapie besser helfen würde als Medikamente. Aber wer finanziert eine solche Studie? Die Rheumamittelhersteller sicher nicht, und die Physiotherapeuten-Verbände haben kein Geld. Sinnvoll wäre, wenn die Krankenkassen die Möglichkeit hätten, solche Fragen zu erforschen. Aber das ist bisher gesetzlich nicht vorgesehen.

Aber untersucht nicht etwa die Pharmaindustrie auch die Anwendung ihrer Mittel im Alltag?
Gerd Glaeske
: Es gibt die richtige Versorgungsforschung – und es gibt Studien, die den Begriff „Versorgung“ instrumentalisieren. So hat eine Pharmafirma in einer „Versorgungsstudie“ untersucht, welche Blutdrucksenkungsmittel am konsequentesten eingenommen werden. Diese Mittel, wurde dann der Schluss gezogen, nützen folglich auch am meisten. Aber das ist natürlich Unsinn. Die Versorgungsforschung würde stattdessen eine Studie entwerfen, die tatsächlich herausfindet, welcher Wirkstoff für den Patienten am besten ist. Dafür bräuchte man eine randomisierte, kontrollierte Studie, die über Jahre hinweg Gesundheitszustand und Sterblichkeit von Bluthochdruckpatienten erfasst. Ich verstehe die Versorgungsforschung als eine Art von Gegenöffentlichkeit in der Medizin, die nicht ökonomische Interessen, sondern diejenigen der Patientinnen und Patienten in den Vordergrund stellt.

Gibt es bekannte Beispiele, wo Versorgungsforschung sich schon ausgewirkt hat?
Gerd Glaeske:
Ein Beispiel, das viele Frauen betrifft: Jahrzehntelang hat man in den Wechseljahren standardmäßig eine Hormonkombination gegeben, um etwa Alzheimer und Osteoporose vorzubeugen. Aber welche Effekte das insgesamt hat, wusste man nicht. Dann haben Studien gezeigt, dass Brustkrebs-, Schlaganfall- und Herzinfarkthäufigkeit als Folge der Therapie anstiegen. Hier hat die Versorgungsforschung also den Patientenschutz verbessert: Die Leitlinien wurden geändert – die Hormonpräparate dürfen in den Wechseljahren nicht mehr rein vorbeugend eingesetzt werden, die bisherige Indikation wurde deutlich eingeschränkt.

 

Weitere Informationen unter:

Universität Bremen Zentrum für Sozialpolitik – Gesundheitsökonomie, Gesundheitspolitik und Versorgungsforschung

 

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