„Unsere Selbsterzählung muss sich ändern“

Portrait Tobias Hülswitt

Tobias Hülswitt (37) ist freier Autor und Literaturdozent. Sein gemeinsam mit Roman Brinzanik herausgegebenes Buch „Werden wir ewig leben? Gespräche über die Zukunft von Mensch und Technologie“ ist in der „edition unseld“ im Suhrkamp Verlag erschienen.
Herr Hülswitt, für Ihr Buch „Werden wir ewig leben? Gespräche über die Zukunft von Mensch und Technologie“ haben Sie Wissenschaftler interviewt, die an der Verlängerung des Lebens forschen. Wie sind Sie auf dieses Thema gekommen?

Tobias Hülswitt: Als Autor versuche ich, die Vergänglichkeit mithilfe der Sprache aufzuhalten. Doch das ist ein aussichtsloser Kampf, denn die Zeit rast ja trotzdem weiter. Und dann hörte ich von dem US-Futurologen Ray Kurzweil, der glaubt, dass wir Menschen eines Tages dank Bio- und Nanotechnologie nicht mehr sterben müssen. Nachdem ich seine Bücher las, dachte ich: Da ist jemand am Werk, der auch diesen Vergehensschmerz empfindet, aber gleich in Fleisch und Blut erzählt.


Sie haben Ihre Gesprächspartner gefragt, ob sie gerne 400 Jahre alt werden würden. Wie würden Sie diese Frage beantworten?
Hülswitt: Wenn ich trotzdem entscheiden kann, wann ich sterben will, würde ich es ausprobieren wollen. Der Wunsch, die gesunde Lebensspanne auszudehnen, besteht doch bei den meisten Menschen.


Waren Sie überrascht davon, was heute oder in naher Zukunft schon alles möglich ist?
Hülswitt:
Ja, ich hatte keine Vorstellung davon. Zum Beispiel, dass man die Hautzelle einer Maus in eine pluripotente Stammzelle zurück programmieren und daraus wieder eine ganze Maus wachsen lassen kann. Oder die personalisierte Medizin, wo das Genom und Proteom eines Patienten erstellt und dann maßgeschneiderte Medikamente und Therapien entwickelt werden könnten. Das fand ich wahnsinnig faszinierend.


Hat Ihnen das Angst gemacht oder eher Hoffnung gegeben?
Hülswitt:
Beides. Anfangs hatte ich noch eine gewisse Beklommenheit bei dem ganzen Thema. Aber dann dachte ich: Vielleicht ist das so, als ob man von zuhause auszieht. Wenn man etwas hinter sich lassen kann, tun sich auf einmal ganz andere Möglichkeiten auf. Von dem Moment an überwog die Neugierde.


Bei der modernen Medizintechnologie geht es auch um die Umrüstung unseres Körpers. Entfernen wir uns dadurch nicht von der Natur des Menschen?
Hülswitt:
Die Menschen haben sich schon ganz schön verändert, seit sie auf der Erde herumlaufen. Welcher Zustand davon war jetzt der natürliche? Das vermag ich nicht zu beurteilen. Herzschrittmacher oder Hörgeräte finden wir heute doch ganz natürlich.


Und wie sehen Sie das als Schriftsteller? Welche Auswirkungen hätte eine menschliche Lebensspanne von 400 Jahren auf die Kunst?
Hülswitt:
Meine Arbeit als Autor speist sich aus einem Bewusstsein, das mit dem Wissen um die Vergänglichkeit groß wird. Die Kunst wäre bei einem so langen Leben sicher eine andere, denn ihr Wesen hängt direkt mit der zeitlichen Nähe des Todes zusammen, und ihre Schönheit entsteht in ihrem aussichtslosen Kampf.


Beeinflussen neue Technologien unser Empfinden?
Hülswitt:
Ich denke, wir bringen im Zusammenspiel mit jeder Technologie eigene Emotionen hervor. Der erste Blick ins Feuer hat in den Anwesenden eine bis dato unbekannte, spezifische und authentische Emotionslage bewirkt. Und so ist es mit jeder Technologie bis hin zu den jüngsten – Computer, Handys, … Autos! Gestern Nacht auf der Autobahn gerade wieder dieses ganz spezielle und ganz echte Gefühl gehabt, dass man nur bei hoher Geschwindigkeit auf der Autobahn in der Nacht haben kann. Richtig?


Bei aller Überwältigung ist der technologische Fortschritt ja dennoch nicht unumstritten …
Hülswitt:
Ein Problem ist sicher, dass der Fortschritt später immer neue Technologien benötigt, um die unerwarteten Folgen, die er mit sich bringt, zu bewältigen. Dadurch, dass wir die Kindersterblichkeit so stark reduzieren und die durchschnittliche Lebenserwartung so sehr steigern konnten, sind Degenerationskrankheiten wie Alzheimer zu Volkskrankheiten geworden. Wir haben also quasi die tödlichen Kinderkrankheiten mit den Alterskrankheiten getauscht. Und jetzt brauchen wir neue Technologien, um diese Degenerationskrankheiten zu besiegen.


Verändert die Gesundheitsforschung unser Verständnis vom Alter?
Hülswitt:
Bislang nicht. In unserer Gesellschaft sind wir noch völlig einem Altersbild verhaftet, das gar nicht mehr existiert. Die Menschen sind heute viel länger fit. Darauf müssen wir uns einstellen und etwa die Lebensarbeitszeit ganz anders verteilen. Und auch unsere Selbsterzählung muss sich ändern: Diese Aufwärtskurve von Geburt und Jugend bis zur Hauptarbeitsphase und dann wieder abwärts mit dem Alter wird heute immer weiter entzerrt.


Vermittelt die Wissenschaft ihre Entdeckungen denn ausreichend in die Gesellschaft?
Hülswitt:
Der Vermittlungsprozess in die Medien ist offenbar gestört, weil der Journalismus ganz anderen Gesetzen folgt. Und das verzerrt leider das Bild. Ich finde es eigenartig, dass eine Diskussion über die verlängerte Lebenszeit in Deutschland kaum stattfindet, weil sie unsere Gesellschaft so massiv verändern wird.


Durch die moderne Gesundheitsforschung könnte die Grenze zwischen Krankheit und Gesundheit verschoben werden. Das wirft jetzt schon die Frage auf: Was erachten wir zukünftig als gesund? Und wie viel Defizite können oder wollen wir noch akzeptieren?
Hülswitt:
Das ist wirklich ein schwieriges Thema. Da Pauschalurteile zu fällen, halte ich für hochproblematisch. Wenn ich ein schwer krankes Kind habe, das ich nur retten kann, indem ich an embryonalen Stammzellen ein Medikament erforsche, dann zeigt mir den Menschen, der da sagt: „Lasst das, es ist eben Schicksal, ich lasse mein Kind lieber sterben!“


Insofern sollten der Forschung also keine Grenzen gesetzt werden?
Hülswitt:
Man muss die Betroffenen ganz stark einbeziehen. Wir haben stets große Angst vor zukünftigen Möglichkeiten. Aber mit dem, was schon da ist, kommen wir gut zurecht. Also die Angst vor Dingen, die eintreten könnten, ist viel größer als der Schock, wenn sie dann eintreten. Diese Diskussionen im Vorfeld sind oftmals überzogen, ja hysterisch. Die Haltung „Das dürfen wir nicht machen“ finde ich unproduktiv und auch verlogen. Weil wir alles machen, wenn wir die Möglichkeit dazu haben.


Wie haben Sie die Haltung der Forscher in dieser Frage erlebt?
Hülswitt:
Die Forscher haben mich zunächst als Menschen sehr interessiert: Wie sie da sitzen, reden und mit sich ringen … die spüren die Spannungen, unter denen sie stehen! Wie der Stammzellenforscher Hans Schöler gesagt hat: Er möchte die Gesellschaft nicht zerreißen. Also das Bild von Wissenschaftlern, die sich keine Gedanken über die Folgen ihrer Arbeit machen, bestätigt sich überhaupt nicht. Allerdings sind die deutschen Forscher schon sehr speziell. Die haben eine ganz eigene Art der Furcht und des Problembewusstseins. Ausländische Forscher haben diese Schwere weniger. Das Faustische fehlt ihnen.

 

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