Navigation und Service

Springe direkt zu:

Sehr mobil mit App und Engagement

Im Landkreis Siegen-Wittgenstein untersucht das vom BMBF geförderte Forschungsprojekt „Sehr mobil mit 100“ derzeit, wie eine internetbasierte Plattform auch ältere Menschen dabei unterstützen kann, mobil und gut vernetzt zu leben. 

Senioren testen die App auf dem Smartphone.
Senioren testen die App. Bild: S-Mobil

Morgens, kurz nach halb acht in Beienbach. Eine ältere Frau steht mit hellbrauner Outdoor-Jacke im Nieselregen und wartet auf den Bus. Zwei Mal täglich verkehrt die Linie A361, um 7:28 Uhr und um 13:14 Uhr – zwischendurch fahren nur Taxibusse, die das 300-Seelen-Dorf im südlichen Nordrhein-Westfalen mit der benachbarten Kleinstadt Netphen verbinden. So will es der Fahrplan. Wer kein Auto hat, muss gut planen und Umsteige- und Wartezeiten einkalkulieren. Oder er bleibt zuhause.


Doch heute hat die Wartende Glück. Ein Nachbar hält mit seinem roten Peugeot am Bushäuschen, bietet an, sie mitzunehmen. In Beienbach kennt jeder jeden und alle Wege führen nach Netphen. 

Herausforderung Mobilität

Mobilität auch in ländlichen Bereichen – das soll in Zukunft keine Glückssache mehr sein. So lautet das Ziel des 2012 ins Leben gerufenen Projekts „Sehr Mobil mit 100“ – kurz „S-Mobil“. Acht Verbundpartner – darunter das Deutsche Rote Kreuz (DRK), Stadt und Kreis Siegen-Wittgenstein, das Softwareunternehmen infoware, die Universitäten Siegen, Heidelberg und Bonn sowie die Seniorenorganisation BAGSO und das Institut für Sozio-Informatik aus Bonn – entwickeln derzeit gemeinsam eine Plattform, die es den Bewohnern der Region und insbesondere älteren Menschen erlaubt, mithilfe von neuen Medien unkompliziert von A nach B zu gelangen.

Eine Online-Anwendung ermittelt die schnellste Verbindung aus den Angeboten des öffentlichen Nahverkehrs sowie von Taxiunternehmen und berücksichtigt zudem kostenlose Mitfahr-Angebote. Zusätzlich ist eine Fußgängernavigation integriert, die den Nutzer bis an sein Ziel führt. Nutzer können sich registrieren und über PC, Smartphone oder eine Box am Fernsehgerät auf die Plattform zugreifen. 

Entwicklung mit Hilfe von 19 Testsenioren

Zwei Senioren testen zusammen die Smartphones
Zwei Senioren testen die Smartphones. Bild: S-Mobil, D. Bender

„Technisch gesehen ist die Erstellung einer solchen Anwendung eine lösbare Aufgabe“, sagt Wirtschafts-informatiker Martin Stein vom Lehrstuhl Wirtschaftsinformatik und Neue Medien der Universität Siegen. „Die Frage ist nur: Wie muss die Anwendung gestaltet werden, damit sie sich gut in die Lebensumstände der Senioren einfügt? Und welche Technik wird tatsächlich benötigt und genutzt?“ Antworten können nur die älteren Menschen selbst geben. „Wir wollten möglichst früh mit den Nutzern ins Gespräch kommen und sie in den Erstellungsprozess miteinbeziehen“, sagt Stein. Um Informationen aus erster Hand zu erhalten, gewann die Projektgruppe 19 freiwillige Senioren, die das Programm testen.

„Damit die älteren Probanden die Plattform überhaupt nutzen und uns konstruktives Feedback geben konnten, mussten wir sie langsam an die Technik heranführen und vorbereiten“, berichtet Marcus Sting vom DRK-Kreisverband Siegen-Wittgenstein, der das Projekt koordiniert. „Zunächst haben wir die Teilnehmer mit einem relativ großen Smartphone ausgestattet, mit dem sie einfache Apps ausprobieren konnten. Seit Anfang September können sie sich auf der „Sehr Mobil mit 100“-Seite registrieren und die Anwendung auf dem PC ausprobieren.“ In den kommenden Wochen werde die nächste Testphase eingeläutet, bei der S-Mobil auf die Smartphones der Senioren aufgespielt werde, so Sting.

Lernen, Ausprobieren und Programmieren

Einer der Probanden ist Heinrich Langenbach. Der gelernte Kaufmann fährt, obwohl schon in fortgeschrittenem Alter, immer noch Auto und bietet häufig Bekannten und Nachbarn eine Mitfahrgelegenheit an. Mit 81 Jahren zählt er zu den ältesten Testnutzern. Seine Erfahrungen mit Smartphones, Apps und mit der Anwendung S-Mobil sind für die Wissenschaftler eine wichtige Informationsquelle.

„Natürlich kann man es lernen“, antwortet Langenbach auf die Frage, wie er mit der Technik zurechtkomme. „Man muss es halt üben“. Alle zwei Wochen fährt Herr Langenbach zur Universität auf den Haardter Berg, wo er und die anderen Testsenioren von den Wissenschaftlern befragt werden: Wie sind seine Erfahrungen? Wie kommt er mit dem Gerät und der Anwendung zurecht? Wo gibt es Probleme, was kann verbessert werden? Seine Anmerkungen werden ausgewertet und für Entwickler in konkrete Programmierschritte übersetzt.

Ausbau und Nutzung der mobilen Plattform

Das Foto zeigt einen Screenshot der Anwendung S-Mobil.
S-mobil soll ältere Menschen vor Vereinsamung schützen. Bild: S-Mobil

Bei der Arbeit mit den Senioren zeigte sich, dass sich viele Menschen nicht nur eine Mitfahrgelegenheit wünschen. „Ursprünglich war ja nur eine Mobilitätsplattform geplant“, erklärt Projektkoordinator Marcus Sting, „aber diese Idee haben wir dann erweitert: Jetzt soll die Anwendung den Nutzer auch über Veranstaltungen in seiner Nähe informieren, ihm haushaltsnahe Dienstleistungen vermitteln und ein Netzwerk an ehrenamtlich Engagierten aufbauen“. Nutzer können sich registrieren, ein Profil anlegen und ihren Bedarf oder ihr Angebot eingeben. „Im demografischen Wandel leben immer mehr ältere Menschen allein; die meisten von ihnen haben kein Auto. S-Mobil kann helfen, sie vor Isolation zu bewahren“, erklärt Sting.

„Damit das Ganze funktioniert, müssen aber hunderte von Menschen ihre Fahrten eintragen“, sagt App-Tester Heinrich Langenbach. Denn erst, wenn eine kritische Masse an Mitfahrgelegenheiten angeboten wird, ist die Nutzung der Plattform wirklich hilfreich. „Unser Wunsch ist, dass S-Mobil nicht nur ein Forschungsprojekt bleibt, sondern dass es tatsächlich durch das DRK betrieben werden kann“, so Marcus Sting. Bis 2015 ist die Finanzierung von „Sehr Mobil mit 100“ gesichert, danach muss sich zeigen, ob Technik in Kombination mit freiwilligem Engagement den Landkreis Siegen-Wittgenstein wirklich mobil machen kann. Bis es soweit ist, wird Herr Langenbach weiterhin seinen am Straßenrand stehenden Nachbarn eine Mitfahrgelegenheit anbieten – ohne sich vorher digital mit ihnen abzusprechen.