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Freiheit und Verantwortung
Workshop zu NS-Terror und Widerstand

Hinter Gefängnismauern über Freiheit zu sprechen, klingt zunächst ungewöhnlich. Die historisch-politische Bildnerin Lara Myller lud Jugendliche aus der JVA Neustrelitz im Rahmen des Förderprojekts „Meine Freiheit. Deine Freiheit.“ zu einem Workshop ein. Im Gastbeitrag erzählt sie, wie sie den Termin erlebt hat.

Im Projekt „Meine Freiheit. Deine Freiheit.“ habe ich mit Kolleginnen und Kollegen der Gedenkstätte Ravensbrück und des Anne Frank Zentrums einen mehrstündigen Workshop in der Justizvollzuganstalt (JVA) Neustrelitz geleitet. In dem Projekt beschäftigen sich die Jugendlichen mit den Biografien von Menschen, die im Widerstand gegen die Nazis waren, sich für Freiheit und Gerechtigkeit einsetzten und ums Überleben kämpften.

An dem Nachmittag haben die Jugendlichen sich mit den Lebens- und Verfolgungsgeschichten dreier ganz unterschiedlicher Frauen beschäftigt. Alle drei wurden von den Nazis in das Frauen-Konzentrationslager Ravensbrück verschleppt.

Die Gefangenen im Frauen-KZ Ravensbrück

Ich möchte sie kurz vorstellen:

  • Ilse Heinrich (1924-2023) war als Jugendliche unangepasst und widerständig. Aus nationalsozialistischer Sicht galt sie als „arbeitsscheu“ und „asozial“. 1943 wurde sie im Arbeitshaus Güstrow in Mecklenburg interniert, 1944 in das Frauen-Konzentrationslager Ravensbrück verschleppt. Ilse erlebte die Befreiung im Mai 1945, wurde schwer krank vergewaltigt, aber überlebte. 
  • Batsheva Dagan (1925-2024) war vor dem Krieg in Polen Mitglied einer jüdischen Jugendorganisation, die im Ghetto heimlich weiter existierte und Widerstand gegen die Deutschen leistete. Sie konnte fliehen und in Schwerin untertauchen, aber wurde 1943 verraten und verhaftet. Auch in den Konzentrationslagern Auschwitz und Ravensbrück versuchte sie durch Sabotage-Aktionen dem Terror der Nazis etwas entgegenzusetzen. Den Tag ihrer Befreiung bezeichnete Batsheva als „zweite Geburt“.
  • Emmie Arbel, 1937 in den Niederlanden geboren, lebt heute im Norden Israels. Emmie war vier Jahre alt, als die Deutschen sie und ihre jüdische Familie festnahmen. Mehr als zwei Jahre wurde sie in den Lagern Westerbork und Ravensbrück festgehalten. Dagegen konnte Emmie als Kind nichts ausrichten. Trotzdem hatte sie im Lager den Mut, sich zu widersetzen. Das Kriegsende erlebte sie im KZ Bergen-Belsen. Ihre Eltern und Großeltern überlebten nicht.

Wer war damals verantwortlich? Wer ist es heute?

Diese Fragen standen in der Auseinandersetzung mit den Jugendlichen im Mittelpunkt. Da wir mit der Gruppe aus der JVA Neustrelitz den (Tat-)Ort Ravensbrück nicht besuchen konnten, nutzten wir historische und aktuelle Fotografien. Gemeinsam mit den Inhaftierten erarbeiteten wir uns einen Überblick über das Gelände des ehemaligen Frauen-Konzentrationslagers, das sich in der Nähe der JVA Neustrelitz befindet.

Beim Blick auf ein Foto, das die ehemalige Lagermauer und den Stacheldraht zeigt, verglich ein Teilnehmer Konzentrationslager mit Gefängnissen in der Gegenwart. Das war der Moment, um sich bewusst zu machen: Während in einem Rechtsstaat die Freiheitsrechte eingeschränkt werden können, aber klar definiert und an Gesetze gebunden sind, diente die NS-Justiz der systematischen Verfolgung und Entrechtung von Menschen auf Grundlage von Willkür und Ideologie. Diesen Unterschied zu verstehen, ist zentral, um die Rolle von Freiheit und Gerechtigkeit in unserer heutigen Gesellschaft zu begreifen.

In der Haft haben die Jugendlichen keine physische Freiheit – sie können nicht frei entscheiden, wohin sie gehen oder was sie tun. Aber sie haben Rechte, sind frei im Denken, Glauben und Empfinden und geschützt vor Willkür und Unterdrückung. Darüber mit den Teilnehmenden hinter den Gefängnismauern zu sprechen, erschien in diesem Moment komplex und auch paradox.

Für einige Teilnehmenden schien es schwer, sich den historischen Ort vorzustellen und die komplexen Sachverhalte zu einem inneren Bild werden zu lassen. Darin liegt eben eine Besonderheit von Gedenkstätten: Sie können als Lernorte in besonderer Weise Informationen und Betroffenheit, Erkenntnis und Empathie, Wissen und Gefühl zusammenbringen und so ein Zugang sein, sich Geschichte zu erschließen.

Ein Teilnehmer schien sich an dem Hinweis zu stoßen, dass die provisorisch eingerichtete Gaskammer in Ravensbrück nach der Befreiung abgebaut wurde. Er stellte die „historische Wahrheit des Ganzen“ infrage, es käme ihm merkwürdig, gar verschwörerisch vor. Viel diskutiert haben wir auch über Fragen von Schuld und Verantwortung sowie die Handlungsspielräume der Täterinnen und Täter. Wir stellten fest, dass es möglich war, nicht mitzumachen. Dennoch beharrten in der Diskussion einige darauf, dass die Täterinnen und Täter im damaligen Rechtssystem handelten und deswegen nicht moralisch oder juristisch belangt werden könnten. Es schien ihnen schwer begreiflich, dass Menschen in einem verbrecherischen System für ihr individuelles Handeln verantwortlich bleiben.

„Nie wieder!“ ist ein Auftrag an uns alle, Demokratie- und Freiheitsrechte jeden Tag aufs Neue zu verteidigen.

Lara Myller
Historisch-politische Bildnerin und freie Autorin

Verzerrte Geschichtsbilder

Aus dem pädagogischen Alltag in Gedenkstätten kennen wir solche Diskussionen. Auch Jugendliche, die im Rahmen einer Exkursion die Gedenkstätte besuchen, neigen regelmäßig zu Schlussstrich- und Schuldabwehr-Argumenten, stellen Deutsche mitunter als „Opfer des NS-Terrors“ dar. Ihr Geschichtsbild ist verzerrt.

Die MEMO-Studie der Universität Bielefeld und der Stiftung EVZ zeigt, dass rund 70 Prozent der Jugendlichen überzeugt sind, dass ihre Vorfahren nicht „unter den Tätern während der Zeit des Nationalsozialismus“ waren. Zugleich geben 36 Prozent an, dass ihre Vorfahren „unter den Opfern während der Zeit des Nationalsozialismus“ gewesen seien. Etwa 29 Prozent behaupten sogar, ihre Vorfahren hätten „während der Zeit des Nationalsozialismus potenziellen Opfern geholfen“. Mit der historischen Realität sind diese Annahmen nicht vereinbar.

In einer immer komplexer werdenden Welt und durch die Verbreitung von Falschinformationen und Verschwörungstheorien drohen die Grenzen zwischen Realität und Fiktion zu verschwimmen. Rechtsextreme Akteure nutzen gezielt die Verfälschung von Fakten, um ihr Weltbild zu stützen. Die AfD fordert eine „erinnerungspolitische Wende“, während wir uns intensiver denn je mit der Geschichte des Nationalsozialismus auseinandersetzen müssen.

Es gilt zu verstehen, durch welche ökonomischen und sozialpsychologischen Bedingungen der Aufstieg der Nazis möglich wurde und wie wir Gefahren für die Demokratie abwenden können. „Nie wieder!“ ist ein Auftrag an uns alle, Demokratie- und Freiheitsrechte jeden Tag aufs Neue zu verteidigen. Die Verantwortung dafür liegt bei uns selbst.

Lara Myller

Lara Myller, M.A., ist historisch-politische Bildnerin und freie Autorin. Zu ihren Arbeitsschwerpunkten zählen die gesellschaftlichen Kontinuitäten des NS-Terrors, Geschichte und Kritik des Antisemitismus, die Extreme-Rechte in Deutschland, antisemitismuskritische Bildung sowie Faschismus und Ästhetik in Geschichte und Gegenwart.

Die hier veröffentlichten Inhalte und Meinungen der Autorinnen und Autoren entsprechen nicht notwendigerweise der Meinung des Wissenschaftsjahres 2024 – Freiheit.​