Die Frage nach dem Warum

Seniorin mit Altenpfleger Quelle: BMBF

Neurodegenerative Krankheiten verunsichern. Die Vorstellung, im Alter das Gedächtnis zu verlieren oder verhaltensauffällig zu werden, verursacht bei vielen Menschen Unbehagen. In einer alternden Gesellschaft ist die Demenz eine der großen Herausforderungen für die biomedizinische Forschung und für die Sozialsysteme.

Auch wenn bei den meisten neurodegenerativen Erkrankungen bekannt ist, was im Gehirn passiert, so ist heute noch weitgehend unklar, warum es passiert. Die Neurowissenschaft versucht deswegen, möglichst detailliert zu klären, welche molekularen Prozesse letztlich den Zelltod bei neurodegenerativen Erkrankungen verursachen. Klinisch ist das sehr relevant: Zum einen kann die Forschung zu den molekularen Mechanismen der Neurodegeneration zur Entdeckung neuer Biomarker führen, die eine frühe Diagnose erleichtern. Das ist die Grundvoraussetzung für präventive Behandlungen, die das Absterben der Nervenzellen künftig möglicherweise verhindern können. Zum anderen liefern die durch die neurobiologische Forschung aufgedeckten Krankheitsmechanismen auch mögliche Angriffspunkte für neue Medikamente.

Forschung im Bereich neurodegenerativer Erkrankungen bedeutet mehr als „nur“ molekulare Biomedizin. Neurodegenerative Erkrankungen sind nicht nur eine medizinische, sondern vor allem auch eine soziale Herausforderung. Wenn Demenzen oder Parkinson-Erkrankungen immer häufiger werden, dann müssen sich die ambulante Medizin und vor allem auch die ambulante Pflege darauf einstellen. Wie das am besten geschehen sollte, ist bisher nur ansatzweise klar. Hier setzen Versorgungsforschungsprojekte an, die die Situation der Patientinnen und Patienten und ihre Probleme im Alltag erfassen. Gesucht sind Lösungen, die es den Betroffenen erlauben, so lange wie möglich in ihrem sozialen Umfeld zu verbleiben. Neurodegenerative Erkrankungen sind keine Frage der Akutversorgung, sondern eine Herausforderung für die langfristige Betreuung.

Das Deutsche Zentrum für Neurodegenerative Erkrankungen (DZNE) ist ein Zentrum der Exzellenz, das herausragende Forschung an acht Standorten in Deutschland bündelt. Es gehört zu den sechs von der Bundesregierung neu eingerichteten Deutschen Zentren der Gesundheitsforschung. Mit besonderem Augenmerk auf die Rekrutierung von internationalen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern soll das DZNE eine der weltweit führenden Forschungseinrichtungen auf dem Gebiet der neurodegenerativen Erkrankungen werden.

„Das DZNE bietet optimale Voraussetzungen für die translationale Forschung bei neurodegenerativen Erkrankungen“, betont der wissenschaftliche Vorstand DZNE, Professor Pierluigi Nicotera. „Die Struktur als Helmholtz Zentrum gibt uns Planungssicherheit für Forschungsprojekte, für die gerade bei Erkrankungen wie Demenz oder Parkinson häufig ein langer Atem nötig ist. Die Einbindung der universitären Forschung wiederum bedeutet für das DZNE eine enorme klinische Expertise und bringt einen besseren Zugang zu den Patientinnen und Patienten.“

Zwei Jahre nach seiner Gründung hat das DZNE mehr als 300 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Da es derzeit noch keine krankheitsverändernden Therapien für neurodegenerative Erkrankungen gibt, müssen neue Strategien und Therapien entwickelt werden. Um translationale Forschung bestmöglich umzusetzen, verfolgt das DZNE vier Forschungsschwerpunkte: Grundlagenforschung, klinische Forschung, Bevölkerungsstudien und Versorgungsforschung.

Neue Ansätze zur Entwicklung von Medikamenten, die die Kognition verbessern, sind unbedingt auf das Verständnis der normalen neuronalen Kommunikation zurückzuführen. „Zum einen geht es darum, besser zu verstehen, warum bei neurodegenerativen Erkrankungen Nervenzellen absterben und Synapsen verschwinden“, betont Nicotera. Zum anderen sollen frühe Diagnosemöglichkeiten entwickelt werden, um die Prävention neurodegenerativer Erkrankungen zu verbessern. „Ganz wichtig ist für uns außerdem die Frage, wie die Versorgung und die Pflege von Patientinnen und Patienten verbessert werden können und wie wir Angehörige bei der Betreuung besser unterstützen können“, betont Nicotera.

 

Wenn das Gehirn altert

Senior beim Schachspiel Quelle: BMBF

Neurodegenerative Erkrankungen werden oft erst dann diagnostiziert, wenn sie sich bereits in einem fortgeschrittenen Stadium befinden. Das Gehirn kann viele Schäden für lange Zeit kompensieren, ohne dass das im Alltag auffällt. Welche Symptome die Betroffenen im Laufe der Zeit entwickeln, hängt davon ab, wo genau die Nervenzellen absterben.


Bei der Parkinson-Erkrankung sind Nervenzellen betroffen, die den Botenstoff Dopamin produzieren und die unter anderem für die Bewegungssteuerung benötigt werden. Entsprechend wirken Patientinnen und Patienten mit Parkinson steif, oder sie zeigen auffällige Muskelbewegungen wie etwa einen Tremor. Die geistigen Funktionen dagegen sind intakt.
Anders bei der Demenz. Hier lassen die geistigen Fähigkeiten zunehmend nach, etwa das Gedächtnis und die Orientierung. Auch die Persönlichkeit verändert sich.
Ganz anders sind die Symptome bei der amyotrophischen Lateralsklerose, einer schweren Erkrankung, die im mittleren Erwachsenenalter beginnt. Hier sterben Motoneurone ab, jene Nervenzellen, die die Muskulatur unmittelbar steuern. Das führt zu schwerwiegenden Lähmungen, die lebensbedrohlich werden, wenn sie die Atemmuskulatur betreffen.Die Huntington-Erkrankung schließlich ist eine erbliche neurodegenerative Erkrankung, die meist im vierten Lebensjahrzehnt ausbricht. In diesem Fall machen aber vor allem jene Zellen Probleme, die den Botenstoff Glutamat produzieren. Typisch dafür sind „ausladende“ Bewegungen, die an einen ekstatischen Tanz erinnern. Früher sprachen die Menschen bei dieser Erkrankung deswegen von „Veitstanz“.

 

(Vorsichtiger) Blick auf die Statistik

Neurodegenerative Erkrankungen sind schon heute alles andere als eine Seltenheit. Genaue Zahlen sind schwer zu ermitteln, weil es sich um Erkrankungen handelt, die die Patientinnen und Patienten nicht zwangsläufig ins Krankenhaus führen. Fachleute gehen davon aus, dass derzeit in Deutschland mindestens eine Million Menschen mit einer Demenzerkrankung leben. Nach Angaben der Deutschen Parkinson-Vereinigung ist darüber hinaus bei etwa 150.000 Menschen eine Parkinson-Erkrankung
bekannt. Bei weiteren 100.000 könnte die Erkrankung vorliegen, ohne dass sie bisher diagnostiziert worden wäre.
Einiges spricht dafür, dass das erst der Beginn einer Entwicklung ist, die in den kommenden Jahrzehnten epidemische Ausmaße annehmen könnte. Wenn es bei Prävention und Behandlung keine Veränderungen geben sollte, dann dürfte die Zahl der Patientinnen und Patienten mit neurodegenerativen Erkrankungen bis zum Jahr 2050 allein als Folge des demographischen Wandels und der weiter zunehmenden Lebenserwartung auf drei Millionen oder mehr ansteigen.