„Kein Zwang zur Vorsorge“

Jochen Vollmann

Die Individualisierte Medizin eröffnet neue Möglichkeiten: Medikamente können auf Patienten abgestimmt, Nebenwirkungen verringert und Krankheitsrisiken vorhergesagt werden. Nötig ist dafür eine Genanalyse. Doch wissen wir wirklich, was damit auf uns zukommt? Fragen an Prof. Jochen Vollmann, Mediziner und Philosoph.

Der Begriff der Individualisierten oder Personalisierten Medizin hört sich sehr positiv an. Verstehen denn alle Beteiligten das Gleiche darunter?
Jochen Vollmann: Nein, der Begriff kann sehr unterschiedlich verstanden werden. Patienten verstehen darunter meist eine persönliche, zugewandte Behandlung. Dass der Arzt sich für ihn Zeit nimmt und ihm alles gut erklärt. Aber in der naturwissenschaftlichen Forschung ist er ganz anders besetzt – nämlich als eine molekular-genetische Subgruppen-Medizin. Mithilfe einer aufwändigen molekular-genetischen Diagnostik sollen Untergruppen von Patienten identifiziert werden, die von einer bestimmten Therapie besonders profitieren. Von einer maßgeschneiderten Therapie für einen individuellen Patienten ist die Forschung noch weit entfernt.

Könnte der Patient also gerade durch die Individualisierte Medizin ent-individualisiert und zu einem standardisierten Typus degradiert werden?
Jochen Vollmann: Zumindest ist der Begriff „Person“ hier ganz anders besetzt als in der Philosophie, nämlich als Individuum, das nach seinen molekular-genetischen Anlagen definiert ist. Bisweilen scheint es mir, dass die Bezeichnung „Personalisierte Medizin“ bewusst gewählt wird, um positive Assoziationen zu wecken. Weiterhin halte ich es für ethisch bedenklich, unberechtigte Hoffnungen zu wecken. Mehr interdisziplinäre Verständigung, Transparenz und Ehrlichkeit sind hier einzufordern - eines unserer Arbeitsziele im Forschungsverbund „Personalisierte Medizin in der Onkologie“.

Aber es gibt doch bereits Erfolge der Individualisierten Medizin. Sind die Hoffnungen, die darauf ruhen, berechtigt?
Jochen Vollmann: Es gibt bereits erste konkrete Therapieerfolge, zum Beispiel in der Onkologie. In der experimentellen Behandlung der Leukämie gibt es konkrete Fortschritte. Aber die Erfolge helfen bisher nur einer kleinen Gruppe von Patienten. Nach meiner Einschätzung werden von den Fortschritten der individuelleren Therapie einige Patientengruppen profitieren, andere aber nicht. Es wird also „Gewinner“ geben, aber auch „Verlierer“. Aus ethischer Perspektive ist es wichtig, dass die begrenzten Ressourcen im Gesundheitswesen nicht überwiegend an die „Gewinner“ gehen, während die „Verlierer“ schlecht versorgt werden.

Könnte die Individualisierte Medizin denn langfristig die Kosten senken, weil Diagnosen genauer werden und unnötige Therapien entfallen?
Jochen Vollmann: Das ist eine Hoffnung, die in den Medien häufig zu hören ist. Für diese Aussage fehlt jedoch ein wissenschaftlicher Beleg. Daher werden wir in unserem Verbundforschungsprojekt zur „Personalisierten Medizin in der Onkologie“ diesen Sachverhalt untersuchen. Bisherige Innovationen in der Medizin haben meistens zu einer Kostensteigerung geführt. Weiterhin ist die genetische Disposition nur eine mögliche Ursache für eine Erkrankung. Hinzu kommen Umweltfaktoren, die insbesondere bei den häufigen und kostspieligen Zivilisationskrankheiten wie Diabetes oder Adipositas eine wichtige Rolle spielen. Auch bei der Krebsentstehung spielen Umweltfaktoren eine Rolle, und bei der Therapie kommt die psycho-onkologische Behandlung häufig zu kurz.

Bislang ist Individualisierte Medizin teuer. Stellt sie uns auch vor die Frage, was im deutschen Gesundheitssystem bezahlt wird und was nicht?
Jochen Vollmann: Ja, auf jeden Fall. Wir können medizinisch immer mehr machen, haben dafür aber im öffentlich finanzierten Gesundheitswesen nur begrenzte Ressourcen zur Verfügung. Mit jeder Neuentwicklung wächst der Druck auf die Gesetzliche Krankenversicherung, ob sie die Kosten übernimmt oder nicht. Die pharmazeutische Industrie forscht für den Weltmarkt und investiert Milliarden in die Personalisierte Medizin. Solche Geldflüsse sollten aber nicht darüber entscheiden, was von der Gesetzlichen Krankenversicherung bezahlt wird. Dringend nötig ist eine Debatte über eine Priorisierung im Gesundheitswesen.

Wer krebskrank ist, stimmt einem Gentest vermutlich eher zu als jemand, der gesund ist. Wie geht ein Patient mit dem Wissen um, dass er das Risiko für eine Erbkrankheit in sich trägt?
Jochen Vollmann: Nach dem deutschen Gendiagnostikgesetz ist ein Gentest nur erlaubt, wenn der Patient nach einer Beratung ausdrücklich zugestimmt hat. Jeder hat also sowohl das Recht auf Wissen als auch das Recht auf Nichtwissen. Vor dieser Entscheidung stehen schon heute Familien, die von Erbkrankheiten betroffen sind. Lässt sich ein Familienmitglied testen, stellt sich die Frage, ob auch Geschwister oder Kinder betroffen sind. Das ist besonders schwer, wenn für die Krankheit keine Therapie existiert.

Darf man einen Risikopatienten denn zur Vorsorge zwingen?
Jochen Vollmann: Nein, auf keinen Fall. Ein solches gesellschaftliches Vorgehen halte ich für ethisch nicht akzeptabel. Im Extremfall könnte das in einer staatlichen „Gesundheitsdiktatur“ enden. Es gibt ja auch aus guten Gründen keinen Zwang zu Vorsorgeuntersuchungen. Außerdem wäre ein solcher Zwang in der Praxis kaum durchzusetzen.

Ein Gentest als Standard beim Hausarzt – wäre das ethisch vertretbar?

Jochen Vollmann: Die Analyse des menschlichen Genoms ist mit Risiken verbunden. Wenn es identifiziert ist, ist das Wissen in der Welt. Man kann es zum Nutzen des Patienten anwenden, aber auch zu seinem Schaden. Ein Missbrauch durch Versicherungen, Arbeitgeber oder in sozialen Netzwerken muss verhindert werden. Daher sind vermeintlich einfache Standard-Tests, zum Beispiel auch aus dem Internet, ohne individuelle Beratung ethisch problematisch.


Zur Person:
Professor Jochen Vollmann  leitet das Institut für Medizinische Ethik und Geschichte der Medizin der Ruhr-Universität Bochum. Er ist ein international führender Experte auf dem Gebiet der Klinischen Ethik und Mitglied verschiedener Ethikberatungsgremien. Seit 2011 koordiniert er den BMBF-Forschungsverbund „Personalisierte Medizin in der Onkologie“.



Die Wissenschaftsjahre sind eine Initiative des Bundesministeriums für Bildung und Forschung (BMBF) gemeinsam mit Wissenschaft im Dialog (WiD). Seit 2000 dienen die Wissenschaftsjahre als Bühne für den Austausch zwischen Öffentlichkeit und Wissenschaft entlang ausgewählter Themen und haben dabei vor allem junge Menschen im Blick. Der Erfolg der Wissenschaftsjahre basiert auf der Beteiligung zahlreicher Partner aus Wissenschaft, Wirtschaft, Politik und Kultur in ganz Deutschland.
 

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