Vorsicht Fett

Die Vorbeugung gegen Übergewicht und Fettleibigkeit hat versagt. Neue Strategien müssen her, so die erste Bilanz der Forscher im Kompetenznetzwerk Adipositas.

Der 16-jährige Junge, der zu Wieland Kiess in die Behandlung kam, wog 165 Kilo. Er hatte Bluthochdruck, Typ-2-Diabetes, also so genannten Alterszucker, Gicht, hohe Fettwerte, Anzeichen einer Fettleber und Knieprobleme. „165 Kilo bei 176 Zentimetern Körpergröße - das ist ein Body-Maß-Index von 53“, sagt Kiess, Professor für Kinderheilkunde und Direktor der Kinderklinik am Universitätsklinikum Leipzig. Übergewicht beginnt ab einem Body-Maß-Index (BMI) von 25. Einem neunjährigen Jungen, ebenfalls fettleibig, wurde in Leipzig ein zentimeterdicker Gallenstein herausoperiert.

Übergewicht ist längst nicht mehr ein bisschen Wohlstandsspeck, sondern ein großes medizinisches Problem. Mehr als die Hälfte aller deutschen Erwachsenen sind übergewichtig, etwa 20 Prozent sind fettleibig, also adipös. Bei den Kindern und Jugendlichen sind 16 Prozent übergewichtig und sechs Prozent adipös. „Adipositas kann bereits im Kindesalter zu schweren Begleiterkrankungen führen“, warnt Prof. Wieland Kiess. Erkrankungen, die bis ins Erwachsenenalter das Leben stark belasten. Über 40 Prozent der adipösen Kinder weisen laut Kiess Zeichen einer Insulinresistenz auf, einer Vorstufe des Diabetes. Und 37 Prozent der adipösen Jugendlichen haben zu hohe Cholesterinspiegel, 21 Prozent haben Lebererkrankungen und 32 Prozent eine Fettleber.

Doch Diabetes bei fettleibigen Jugendlichen, das sei mit einem Anteil von 1,6 Prozent  immer noch selten, betont der Kinderarzt. Wieland Kiess arbeitet im „Kompetenznetz Adipositas“ mit deutschen Spitzenwissenschaftlern an Strategien gegen die Fettleibigkeit. Für die Weltgesundheitsorganisation WHO ist Adipositas bereits eines der größten chronischen Gesundheitsprobleme unserer Zeit. Denn nicht nur immer mehr Menschen werden dick, sondern immer mehr Menschen bleiben es auch. Und, sagt Prof. Manfred Müller von der Universität Kiel: „Fast 80 Prozent der dicken Kinder und Jugendlichen bleiben auch als Erwachsene dick.“

Das Problem ist derzeit die Vorbeugung. „Die Erfolge der Präventionsprogramme sind sehr begrenzt“, sagt Müller, Sprecher des „Interdisziplinären Konsortiums zur Vorbeugung von Adipositas bei Kindern und Jugendlichen“. Und das liegt vor allem an den vielfältigen Ursachen. Denn es ist nicht das Essen allein. „Die Bedeutung der Ernährung für das Übergewicht ist bislang nicht eindeutig“, sagt Manfred Müller. Schlanke Menschen essen zwar öfter gesunde Lebensmittel als übergewichtige Menschen, aber auch Schlanke essen des öfteren Fastfood, Pommes oder Wurst. „Die Unterschiede sind nicht so groß wie man das erwarten würde.“ Fastfood etwa essen 40 Prozent der Übergewichtigen, aber auch 32 Prozent der Normalgewichtigen.

Die Forschung hat verschiedene Risikofaktoren für die Entstehung von Adipositas bei Kindern ausgemacht. Die größte Rolle spielen der soziale Status und das Übergewicht der Eltern. Manfred Müller: „Kinder fettleibiger Eltern haben ein 300 Prozent höheres Risiko für Übergewicht als Gleichaltrige mit normalgewichtigen Eltern. Und Kinder von Eltern mit geringer Bildung sind zu ungefähr 30 Prozent häufiger dick.“ Weitere Gründe für die Entwicklung von Übergewicht sind natürlich Bewegungsmangel und stundenlanger Medienkonsum, aber auch Rauchen und eine übermäßige Gewichtszunahme der Mutter in der Schwangerschaft (17 Kilo und mehr) sowie der Verzicht auf das Stillen.

Zudem spielt die Psyche ein entscheidende Rolle: „Viele Betroffene machen zwar Diäten, aber nur wenige schaffen es, ihr Gewicht dauerhaft zu senken“, sagt Prof. Martina de Zwaan, Leiterin der Psychosomatischen und Psychotherapeutischen Abteilung am Uniklinikum Erlangen. Das liegt am biologischen Jojo-Effekt, dem auch Schlankere nicht entgehen können. Zudem haben laut Zwaan adipöse Menschen ein um 55 Prozent erhöhtes Risiko für Depressionen und depressive Menschen wiederum ein um 58 Prozent erhöhtes Risiko für Adipositas. Deshalb müssten Adipöse psychologisch betreut statt stigmatisiert werden. Schon eine Gewichtsstabilisierung könne als Erfolg gewertet werden.

Gerade die wichtigsten Faktoren, die Bildung und das Übergewicht der Eltern, sind kaum zu beeinflussen, zumindest nicht kurzfristig. „Deshalb müssen wir uns nicht wundern, dass  die bisherige Prävention so wenig bringt“, bilanziert der Kieler Ernährungswissenschaftler Prof. Müller. Nur über die Schwangerschaftsbegleitung oder über örtliche Programme könne man an die Eltern herankommen.  „Die Vorbeugung in Kindergärten und Schulen darf keine Insel bleiben.“

Eine Studie aus Leipzig mit Kindergartenkindern bestätige das, sagt Wieland Kiess: „Im Kindergarten bewegen sich alle Kinder gleich viel. Aber am Wochenende bewegen sich die Kinder aus bildungsfernen Schichten signifikant weniger.“ Und in den USA joggen nur sieben Prozent mit Highschool-Abschluss, aber mehr als 30 Prozent mit Hochschulabschluss. In Deutschland seien Gymnasialkinder seltener dick als Hauptschulkinder. „Bildung spielt für Gesundheit eine immens wichtige Rolle“, sagt Kiess.

Die Gene als Risikofaktor für die Entstehung von Übergewicht seien dagegen zu vernachlässigen, schätzt Müller. „Nur sehr wenige Genvarianten haben einen starken Einfluss darauf.“ Bisher wisse man darüber zu wenig. Deshalb, so die Forscher, sei das Problem Adipositas nur gesellschaftlich zu lösen. Manfred Müller plädiert für eine lebenslange Konzeption: Vorbeugung in jeder Lebensphase, von der Schwangerschaft über Kindergarten und Schule bis zum Arbeitsleben und zum Rentenalter. Dazu gehöre   eine Stadtplanung, die Freiräume für Bewegung schafft. Therapie ist für Wieland Kiess nur die eine Sache: „Wenn eine Adipositas mit ihren Begleiterkrankungen vorliegt, ist es ein medizinisches Problem. Vorher ist es ein soziales Problem.“

Das Kompetenznetz Adipositas

Das Kompetenznetz Adipositas ist ein Zusammenschluss deutscher Experten, um Ursachen und Risikofaktoren im Bereich Adipositas zu erforschen und neue Therapien und Präventionsstrategien zu entwickeln. Ab einem BMI von 30 sprechen Mediziner von Fettleibigkeit, ab einem BMI von 40 von „morbider Adipositas“ (krankhafter Fettsucht). Da mit Adipositas viele Folgeerkrankungen verbunden sind, werden die Ausgaben dafür im deutschen Gesundheitswesen auf etwa 13 Milliarden Euro geschätzt. Um die Epidemie einzudämmen, benannte das Bundesforschungsministerium vor vier Jahren Adipositas und Diabetes als zentrale Themenfelder der Gesundheitsforschung und fördert seit 2008 für beide Bereiche die Kompetenznetze.

 

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