"Es geht ums Ganze"

  • „Es gibt nichts Gesünderes als ein als sinnvoll empfundenes Leben“, sagt der Philosophie-Professor Klaus Michael Meyer-Abich. Der Autor des Buches „Was es bedeutet, gesund zu sein – Philosophie der Medizin“ stellt im Gesundheitswesen Fragen, die über die bisherige Gesundheitspolitik hinausführen.“

     

  • Herr Meyer-Abich, in Ihrem jüngsten Buch bewerten Sie unser Gesundheitswesen kritisch. Was gefällt Ihnen daran nicht?

    Klaus Michael Meyer-Abich: Um es an einem Beispiel deutlich zu machen: Drei Menschen sitzen in der S-Bahn, und einer von ihnen fängt sich einen Infekt ein. Die meisten Mediziner interessieren sich nur für den, den der Infekt plagt. Ich denke, sie sollten auch mal an die beiden anderen denken. Warum sind die wider- standsfähiger als der andere? Die heutige Medizin interessiert sich fast überall nur für die Krankheiten. Tatsächlich nehmen viele Krankheiten wie Diabetes mellitus, Asthma, Herzinfarkt, Schlaganfall, Arthrose usw. rasant zu. Aber dies alles sind Zivilisationskrankheiten, für die wir durch unsere Lebensweise mitverantwortlich sind. Es lohnt sich, darüber nachzudenken, wie wir besser, gesünder und sinnvoller leben könnten, damit es weniger Krankheiten gäbe. Und ich fände es wichtig, dass darüber eine breite gesellschaftliche Debatte geführt wird.

  • Darüber zu reden ist eine Sache. Eine andere wäre, dann auch anders zu leben.

    Klaus Michael Meyer-Abich: Mit dem gesellschaftlichen Dis- kurs aber sollten wir anfangen. Und ich würde mich freuen, wenn meine Gedanken als Beitrag zu dieser öffentlichen Debatte aufgenommen würden. Es ist dringend geboten, über neue Wege in der Gesundheitspolitik nachzudenken, statt immer nur in einem falschen System die Kosten hin und her zu schieben. Auch in der Gesundheitsforschung geht es lediglich um Krankheiten, ich nenne nur einige Stichworte: Organerneuerungen, Krebsforschung, genetisch individualisierte Behandlungen und die Vision, Krankheiten überhaupt abzuschaffen. Ob die Medizin aber das Richtige täte, wenn sie sich auf diese Fortschritte einließe, ist eine philosophische und politische Frage, die möglichst nicht erst im Nachhinein gestellt werden sollte. Auch das, was handwerklich richtig gemacht wird, ist nicht immer das Richtige.

  • Ihre Kernthese lautet: Wenn wir medizinisch krank werden, fehlt uns vorher etwas Nichtmedizi- nisches. Und Sie gehen so weit zu sagen, Menschen medizinisch zu behandeln sei deshalb nur die zweitbeste Lösung, denn wenn man das eigentlich Fehlende bekäme,

    Klaus Michael Meyer-Abich: So ist es. Wahrscheinlich sterben viel mehr Menschen an Einsamkeit als an dem Krebs, der schließlich hinzukommt. Alle Krankheiten sind ursprünglich psychosomatisch, nämlich entweder durch das persönliche Verhalten oder durch die Verhältnisse bedingt, unter denen man sich konsequenterweise pathogen verhält. Sie wären also grundsätzlich durch eine hinreichend überzeugende Beratung oder durch politische Veränderungen zu verhindern.

  • Dieser These stimmen ja nicht alle zu, allerdings ist damit ein Anstoß der Debatte in den Feuilletons gelungen. Immerhin findet die Definition der Weltgesundheitsorganisation, die das Verständnis von Gesundheit über den körperlichen Zustand hinaus auf d

    Klaus Michael Meyer-Abich: Ja, und deshalb ist das Bildungsministerium genauso verantwortlich für Gesundheit wie das Arbeitsministerium und vielleicht sogar mehr als das Gesundheitsministerium. Bildung ist das Allerwichtigste, damit Menschen gar nicht erst krank werden.

  • Was bedeutet es für die Ausbildung der Mediziner, wenn das heutige Gesund- heitswesen die Krankheiten zu stark in den Blick nimmt?

    Klaus Michael Meyer-Abich: Der Ge- sundheit dienen würde die Prävention. Aber selbst die Früherkennung, um die man sich zunehmend bemüht, dient nur der Feststellung, ob schon irgendeine Krankheit im Anzug ist oder nicht. Wenn ja, schlagen sofort alle zu, wenn nein, ist der Klient für den Mediziner uninteressant und wird wieder nach Hause geschickt. Zur wirklichen Prävention brauchten die Mediziner eine Beratungskompetenz zur Erhaltung der Gesundheit, und die bekommen sie nicht ohne Grundkenntnisse in der Psychotherapie.

  • Wie sind Sie als Philosoph zum Thema Gesundheit gekommen?

    Klaus Michael Meyer-Abich: Über die gesundheitlichen Diskriminierungen in den Arbeitsverhältnissen. In großen Behörden und Unternehmen sind die Krankheitshäufigkeit und die Sterblichkeit der Beschäftigten am unteren Ende der Hierarchie bis zu viermal so groß wie die der Höhergestellten. Die Gründe für diese Diskrepanz sind im Wesentlichen die man- gelnde Anerkennung und die zu geringen Gestaltungsspielräume der unteren Beschäftigungsgrup- pen, wenn sie nichts oder nur wenig zu sagen haben. Sollten wir dann aber nicht erst einmal etwas an den Arbeitsverhältnissen ändern, statt abzuwarten, bis die Leute körperlich krank werden, und sie dann medizinisch kurieren zu lassen?

  • Der kühne Blick des Außenseiters...

    Klaus Michael Meyer-Abich: Philosophen sind als Außenseiter politisch dazu da, Fragen zu stellen, die bislang so nicht gestellt wurden, also zum Beispiel ob ein so genanntes Gesundheitswesen seinen Namen verdient. Außerdem aber geht es, um der persönlichen Mitverantwortung für unsere Gesundheit gerecht zu werden, darum, wie wir in Zukunft leben möchten. Es gibt nichts Gesünderes als ein sinnvolles Leben, aber viel zu viele Menschen können ihr Leben nicht als sinnvoll empfinden. Über den Sinn des Lebens haben Philosophen auch etwas gründlicher nachgedacht als andere.

  • Wenn ein Arzt denkt, sein Patient ist krank, weil er mit seinem Arbeitsleben unzufrieden ist, würden Sie von dem Arzt erwarten, dass er das Thema offen anspricht?

    Klaus Michael Meyer-Abich: Ja, das würde ich von einem guten Arzt, der seinen Beruf ernst nimmt, erwarten. Er sollte nicht einfach ein Rezept ausstellen, sondern deutlich formulieren, dass vielleicht an den Lebensumständen des Patienten etwas nicht stimmt, und er könnte diesen dazu anregen, über Konsequenzen nachzudenken.

     

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