Freiheit ist ein facettenreicher Begriff. Ob in Verfassungen verankert, in Liedern besungen oder in der Erziehung experimentiert – den Begriff umgibt stets etwas Sehnsuchtsvolles und Erstrebenswertes. In der Psychologie bezieht sich das Freiheitskonstrukt vor allem auf die Perspektive des Individuums, einen Geisteszustand von Autonomie oder Entscheidungsfreiheit zu erreichen.
Finanzielle Freiheit: Psychologische Aspekte zu
Sehnsucht und Bürde
Ein Beitrag von Julia Pitters
Freiheit als Tugend?
Neben den positiven Assoziationen lässt sich Freiheit auch verstehen als Bürde oder Pflicht, ständig entscheiden zu müssen. Freiheit im Sinne der Autonomie bedarf daher einer gewissen Fähigkeit, selbständig zu denken, und den Mut zu eigenen Entscheidungen. In diesem Kontext könnte Freiheit auch als Tugend bezeichnet werden.
Nach dem griechischen Philosophen Aristoteles stellen Tugenden grundsätzlich ein ausgewogenes Mittelmaß zwischen zwei Extremen dar: Übertreibung und Mangel. Der Kommunikationspsychologe Schulz von Thun hat dieses Prinzip aufgegriffen und es zu dem sogenannten Tugendquadrat erweitert. Dabei ordnete er jeder Tugend eine Schwestertugend zu und verschob die Extreme in den Bereich der Untugenden.
So muss zum Beispiel die Tugend der Freiheit durch Autonomie mit der Tugend der Verantwortung in Balance gebracht werden. Denn zu viel autonome Freiheit kann in Willkür oder Egoismus ausarten, während ein Übermaß an Verantwortung zu zwanghafter Kontrolle führen kann. Wer zu Extremen wie Willkür tendiert, sollte sich nach diesem Modell an der entgegengesetzten Tugend – in diesem Fall der Verantwortung – orientieren. Auf diese Weise lässt sich eine ausgewogene und harmonische Tugendhaftigkeit in diesem Bereich entwickeln.
Die Wirtschaftspsychologie befasst sich unter anderem damit, wie frei Menschen ihre finanziellen Entscheidungen treffen können und wie diese Entscheidungen langfristig ihre Lebenszufriedenheit und ihr Glück beeinflussen. In diesem Zusammenhang stellt finanzielle Freiheit weniger einen Selbstzweck dar, sondern vielmehr ein Mittel, um höhere Ziele oder persönliche Erfüllung zu erreichen.
Finanzielle Freiheit: zwischen Wunsch und Wirklichkeit
Der Financial Freedom Report der LV1871 erhebt jährlich, was Personen mit dem Freiheitsbegriff verbinden. In diesem Jahr steht an erster Stelle die freie Meinungsäußerung, die im medial geprägten Diskurs zum Demokratieverlust aktuell ein besonderes Anliegen zu sein scheint. 60 Prozent verbinden mit Freiheit jedoch auch finanzielle Freiheit. Weiter gefragt, versteht die Mehrheit darunter finanzielle Unabhängigkeit. Bemerkenswert ist aber, dass ein Fünftel der 19 bis 29-Jährigen finanzielle Freiheit in erster Linie so deutet, sich Träume finanziell erfüllen zu können. Dieses Motiv dominiert hingegen nur für 10 Prozent der Gesamtbevölkerung.
Überträgt man diese finanzielle Freiheit als Tugend auf das zuvor skizzierte Tugendquadrat, müsste man diese mit finanzieller Verantwortung paaren. Hier zeigt sich ein Defizit: Mehr als die Hälfte empfindet negative Gefühle beim Blick auf die Finanzen. Über ein Drittel der Generation Z möchte spätestens mit 50 Jahren in Rente gehen. Realistische Finanzplanung und erhöhte Einkommensbereitschaft müssten diese Wünsche untermauern. Laut einer Deloitte-Studie fordert die Generation Z zwar mehr Finanzbildung, jedoch bleibt – im Kontext des Work-Life-Balance-Trends – die Bereitschaft, mehr zu arbeiten, gering.
Anders ausgedrückt: Finanzielle Freiheit ist kein passiver Zustand. Sie ergibt sich durch aktiven Arbeitseinsatz und Vorsorge. Gespräche mit Vertretern der Generation Z verdeutlichen, dass die wachsende Ungleichheit zwischen jenen, die ein Erbe erhalten, und jenen, die leer ausgehen, wenig zur Vorsorgebereitschaft beiträgt. Während Erbende finanzielle Freiheit oft ohne eigene Anstrengung genießen können, fehlt vielen anderen die Motivation, Vollzeit zu arbeiten – vor allem, weil sie das Gefühl haben, dass ein vergleichbares Wohlstandsniveau ohnehin unerreichbar bleibt. Als Kompensationsstrategie leben sie im Moment. Sie akzeptieren es als unvermeidbares Übel, Schulden aufzunehmen, vielmehr feiern sie es in sozialen Netzwerken sogar als besondere Errungenschaft.
Finanzielle Freiheit ist kein passiver Zustand. Sie ergibt sich durch aktiven Arbeitseinsatz und Vorsorge.
Julia Pitters
Professorin für Wirtschaftspsychologie und Autorin
Fazit: Finanzielle Freiheit als Motivation zur Eigenverantwortung
Damit finanzielle Freiheit nicht nur ein diffuses Ziel bleibt, hilft es aus psychologischer Perspektive, den Freiheitsbegriff zunächst auf die Pflicht oder Tugend des autonomen Entscheidens zu reduzieren. In Kombination mit finanzieller Verantwortung könnte dieser Ansatz dazu motivieren, Wunschvorstellungen und Realität einander näherzubringen. Indem man die Freiheit nutzt, sich finanzielles Wissen anzueignen, eigenständig zu wirtschaften und Vorsorge zu betreiben, wird das Ziel finanzieller Freiheit realistischer. Der umgekehrte Weg – zuerst Konsumwünsche erfüllen zu wollen und den tatsächlichen finanziellen Spielraum zu ignorieren – macht es hingegen nahezu unmöglich, langfristige finanzielle Freiheit zu erreichen.
Um dieses Prinzip in der Breite zu leben, braucht es jedoch ein wirtschaftspolitisches Umfeld, das Anstrengungen belohnt und finanzielle Freiheit nicht als elitäres Privileg darstellt. Vielmehr sollte sie als ein erstrebenswertes Ziel gelten, das insbesondere die junge Generation zu eigenverantwortlichem Handeln inspiriert.

Julia Pitters
Prof. Dr. Julia Pitters lebt in Wien und leitet den Fernstudiengang Wirtschaftspsychologie an der IU – Internationale Hochschule und ist Partnerin beim Beratungsunternehmen Pitters℗ Trendexpert. In der Forschung beschäftigt sie sich allgemein mit Fragestellungen rund am das Thema Finanzpsychologie, Werte und Konsumentenverhalten. In Kooperation mit der deutschen Bundesbank liegt der Fokus derzeit auf der Psychologie des Bargelds.
Sie ist allgemein beeidete und gerichtlich zertifizierte Sachverständige, Buchautorin und regelmäßig TV-Gast für wirtschaftspsychologische Expertisen.
Freiheit heute
Die hier veröffentlichten Inhalte und Meinungen der Autorinnen und Autoren entsprechen nicht notwendigerweise der Meinung des Wissenschaftsjahres 2024 – Freiheit.


