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Freiheit heute
Ausstellung „Freiheit in der Ferne – Die Koffer sind ausgepackt“

Interview mit der jüdischen Künstlerin Era Freidzon über die Ausstellung im Förderprojekt „Freiheit in der Ferne – Die Koffer sind ausgepackt.“

Vor über 30 Jahren flohen die ersten jüdischen sogenannten Kontingentflüchtlinge aus Angst vor Verfolgung aus der Sowjetunion. Ihr Ziel: das wiedervereinigte Deutschland. Hier hofften sie, ein Leben in Freiheit und Sicherheit führen zu können.

Das Förderprojekt „Freiheit in der Ferne – Die Koffer sind ausgepackt“ widmet seiner Geschichte eine multimediale Ausstellung. Seit dem 17. November 2024 können Besucherinnen und Besucher in der Alten Synagoge in Essen Kunstwerke betrachten, an Workshops teilnehmen und dabei mehr über die jüdischen Kontingentflüchtlinge erfahren. Anschließend wird die Ausstellung durch weitere Städte im Ruhrgebiet reisen.

Im Interview sprechen wir mit den Projektverantwortlichen Era Freidzon und Benjamin Weber. Freidzon arbeitet als Künstlerin und Illustratorin. 1992 floh sie mit ihrer Familie aus dem Gebiet der heutigen Republik Moldau. Weber ist wissenschaftlicher Leiter des Projekts.

Interview

Mit Ihrer Ausstellung wollen Sie die Geschichte jüdischer Kontingentflüchtlinge sichtbar machen. Warum wurde dieser Geschichte bisher so wenig öffentliche Aufmerksamkeit geschenkt?

Freidzon: „Wir sind ja gar nicht so viele. Und auch gar nicht so laut. Ich tippe, dass in den letzten 30 Jahren etwa 200.000 Menschen hierherkamen. Es hat sich nicht jeder registriert, alle waren ja beschäftigt mit ihrem eigenen Leben, ihren Kindern – damit, unabhängig und frei zu sein.“

Wenn Sie an Ihre damalige Situation in der Sowjetunion zurückdenken: Wie hängen die Themen Sicherheit und Freiheit für Sie zusammen?

Freidzon: „Da muss ich eine Geschichte erzählen: Als ich mit sieben Jahren in die Schule ging, hat mein Vater mir gesagt: ‚Du bist Jüdin, du musst besser lernen. Du musst so lernen, dass du jeden Widerstand überwinden kannst. Weil du Steine in den Weg gelegt bekommen wirst.‘ Das war das einzige Mal, dass wir darüber gesprochen haben.

Antisemitismus war alltäglich. Es gab Witze über jüdische Nachnamen, das war ganz normal für mich. An den Hochschulen durfte nur ein gewisser Prozentsatz der Studierenden jüdisch sein. Auch das war ganz normal für mich. Dass wir durchgekommen waren, verdanken wir nur dieser Einstellung: ‚Du bist Jüdin? Lerne!‘

Ein Freund von mir hat mir einmal gesagt: ‚Wenn du vergisst, dass du Jüdin bist, dann wirst du dich daran erinnern – und zwar hart.‘ Er hatte Recht. Meine Familie hat alles erlebt: Ghetto, KZ, Stalin-Lager, Verfolgung durch den KGB – wir sind ein Beispiel dafür, was jüdisches Schicksal bedeutet.

Was ich sagen will: Ein Gefühl von Sicherheit gab es nicht. Man gewöhnte sich einfach daran. Und welche Freiheit? Mein Verständnis von Freiheit ist: Du kannst tun und lassen, was du willst – aber bitte trage die Verantwortung dafür. So etwas gab es damals nicht. Es gab nur Glück. Und Hoffnung. Dass wir rausgekommen sind, das war einfach nur Glück.“

Welche Bedeutung hatte es für Jüdinnen und Juden, auf der Suche nach Freiheit nach Deutschland zu kommen?

Freidzon: „Wir kamen 1992 aus der damaligen UdSSR hierher und waren überglücklich, dass wir das durften. Unsere Familie durfte vorher nirgendwo hin, nicht einmal innerhalb der ehemaligen UdSSR. Wir saßen – und ich übersetze hier wörtlich – ‚unter der Käseglocke‘.

Wissen Sie, was ich dann gemacht habe? Ein Jahr nach unserer Ankunft in Deutschland bin ich nach Paris gefahren. Denn es gab einen Witz in der ehemaligen UdSSR: ‚Ach, Sie wollen nach Paris fahren? Ganz schnell?‘. Das war der Witz. Wenn ich Ihnen heute sage ‚Ich will nach Paris.‘, antworten Sie mir ‚Es fährt ein Zug’. Das ist Ihr Verständnis von Freiheit – für uns war das ein Witz.“

Welchen Herausforderungen begegneten Sie bei Ihrer Ankunft in Deutschland?

Freidzon: „Zuallererst die Sprache. Wenn mich heute jemand fragen würde, was man auf der Flucht mitnehmen muss, dann ist es Sprache. Wir wussten nicht, mit wem wir auf welcher Sprache sprechen sollten oder konnten. Das war ein Kuddelmuddel.

Ansonsten waren es ganz alltägliche Dinge: Wir wussten nicht, dass wir einen Knopf drücken mussten, um aus dem Bus auszusteigen. Aber wir haben so viel Hilfe bekommen. Von der Gemeinde, von den Leuten, von der Tagesmutter für meinen Sohn – völlig fremde Menschen, mit denen wir im Nachhinein Freundschaften geschlossen haben. Das ist so rührend, so nett gewesen. Heutzutage kennt jeder jeden aus der jüdischen Community hier. Wir helfen uns gegenseitig, da gibt es einen wirklich festen Zusammenhalt.“

Interview (Fortsetzung)

Wie kam es zu dem Projekt und der Ausstellung von „Freiheit in der Ferne – Die Koffer sind ausgepackt“?

Freidzon: „Ich hatte die Idee für die Ausstellung vor ungefähr fünf Jahren. Während der Pandemie habe ich das Konzept geschrieben und immer wieder neu geformt. Als ich Herrn Weber kennengelernt habe, haben wir das Ganze zusammen ausgearbeitet.

Weber: „Wir hatten uns unabhängig voneinander überlegt, eine Aktion zur Geschichte der jüdischen Kontingentflüchtlinge zu machen. Damals ist mir aufgefallen, dass bei diesem Thema eine Lücke in der Wissenschaft vorliegt. Das liegt teilweise daran, dass das viele noch nicht als Geschichte wahrnehmen. Es ist noch zu nah. Durch einen gemeinsamen Bekannten sind wir dann zusammengekommen. Zwei Wochen später hörte ich von dem Aufruf, am Wissenschaftsjahr 2024 teilzunehmen. Daraufhin habe ich sofort Frau Freidzon kontaktiert, wir haben gemeinsam den Antrag formuliert und eingereicht.“

Was haben Sie durch die Arbeit mit dem Projekt oder während der Recherche gelernt, was Sie vorher nicht gewusst haben?

Freidzon: „Viele der Zeitzeuginnen und Zeitzeugen, die wir für die Ausstellung interviewt haben, sind Bekannte von mir. Eine Freundin hat eine rührende Geschichte über ihre Mutter erzählt. Die lebte nach dem Krieg in einer kleinen Wohnung, der Nachbar war Schuster. Es gab kaum etwas zu dieser Zeit, also hat er die Innensohlen seiner Schuhe aus einem hebräischen Text gemacht – aus einer Tora. Die Mutter meiner Freundin hat ihm das mit Geld, das sie nicht hatte, abgekauft. Jetzt ist dieser kleine Rest der Tora im Besitz ihrer Familie. Und wie das Leben so spielt, habe ich Bekannte, die Restaurationsarbeit leisten. Meine Freundin brachte dieses Stück Tora also zu ihnen. Stellen Sie sich die zeitlichen und geografischen Abstände davon einmal vor. Solche Geschichten haben wir erfahren.“

Welche Rolle spielen die Geschichten der Zeitzeuginnen und Zeitzeugen für die Ausstellung?

Freidzon: „Sie spielen eine sehr große Rolle. Die Leute, die wir kennen, werden zu Geschichte. Wir betrachten unser Leben als normal, vielleicht als banal, aber plötzlich wird es wichtig. Das, was sie erzählen, und die Präsenz dieser Menschen, ist sehr wichtig.

Weber: „Es überraschte mich sehr, dass jede Geschichte so unterschiedlich ist. Wir haben etwa 15 Interviews geführt. Jede Geschichte ist einzigartig und steht für sich selbst. Ich war überrascht, wie reichhaltig und wie viele Dinge – positiv und negativ – dort erzählt wurden.“

Was bedeutet es für Sie, die Ausstellung zu realisieren?

Freidzon: „Das weiß ich erst, wenn alle Bilder aufgehangen sind und alles andere steht. Ich freue mich wirklich, dass das Konzept jetzt Fleisch bekommt. Aber es ist immer noch irreal. Man arbeitet daran so intensiv, jeden Tag, jede Stunde. Denn es ist so eine seltene Möglichkeit, so etwas wirklich zustande zu bringen. Aber noch ist es nicht fertig. Ich bin gespannt, wie es wird.“

Was erhoffen Sie sich von der Ausstellung und ähnlichen Projekten in der Zukunft?

Freidzon: „Wir wollen zeigen, dass wir hier sind. Dass wir keine Hörner oder Flügelchen haben. Wir sind keine Engel oder Teufel, sondern ganz normale Menschen. Wir sind Teil dieser Gesellschaft und wollen genauso betrachtet werden. Wir möchten nicht gejagt werden. Nicht schon wieder. Wir möchten, dass die Koffer wirklich ausgepackt bleiben.“