Wissenschaftsjahr 2014 - Die Digitale Gesellschaft

Menschenrechte: offline gleich online?

Ein Gastbeitrag von Selmin Çalışkan

Eigentlich ist es ganz einfach: "Die selben Rechte, die Menschen offline haben, müssen auch online geschützt werden." So steht es in einer UN-Resolution, verabschiedet als Reaktion auf die Snowden-Enthüllungen. Und tatsächlich sind die Menschenrechte, die von der digitalen Revolution ganz besonders betroffen sind, alte Bekannte: Meinungs- und Informationsfreiheit, das Recht auf Privatsphäre, Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit oder das Recht auf Bildung. Sie alle sind schon in der 1948 verabschiedeten Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte fest verankert. Wer sie durch ausufernde Überwachung oder Internetzensur verletzt, kann sich nicht damit herausreden, die digitale Welt verlange nach ganz neuen Menschenrechtsregeln.

Rechte konsequent verwirklichen
© Lewis Tse Pui Lung/Shutterstock

Zugegeben: Durch die rasante Entwicklung digitaler Technologien sind bestimmte Rechte auf eine neue Weise und in einer ungeahnten Größenordnung gefährdet. Die Verletzung der Privatsphäre in globalem Ausmaß etwa wäre ohne die neuen Informations- und Kommunikationstechnologien undenkbar. Aber Geheimdienste können nicht nur die Kommunikation von Abermillionen von Menschen anlasslos überwachen. Mit gezielt eingesetzten Trojanern lassen sich auch ausgewählte Computer heimlich in ferngesteuerte Lausch-, Lese- und Spähwanzen umfunktionieren. Solche Werkzeuge werden von westlichen Unternehmen an Länder verkauft, in denen Menschenrechtsverletzungen an der Tagesordnung sind. Der aus Bahrain nach Deutschland geflohene Menschenrechtsaktivist Sayed Yusuf al-Muhafdhaaus berichtet, dass in dem Golfstaat immer mehr Menschen, die ohne Prozess inhaftiert und gefoltert werden, in den Verhören mit Inhalten aus ihren privaten E-Mails, SMS oder Telefonaten konfrontiert werden. Telefon und Internet dienten in Bahrain inzwischen mehr der Überwachung und Verfolgung von Oppositionellen als der Kommunikation, sagt al-Muhafdhaaus. So ist das Internet gleichsam ein Mittel, um friedlichen Protest zu organisieren und gleichzeitig eine Waffe, die autoritäre Staaten gegen AktivistInnen verwenden können, um Protest und Kritik zu ersticken.

Konfrontiert mit solchen neuen Technologien macht ein Update bei der Auslegung und beim Schutz bestimmter Rechte durchaus Sinn. Den "General Comment" zum Menschenrecht auf Privatsphäre etwa hat der UN-Menschenrechtsrat 1988 beschlossen – das ist der Text, der die Bedeutung und Reichweite des Rechts auslegt. Damals waren weltweit gerade einmal rund 30.000 Rechner vernetzt. Da ist es wenig überraschend, dass die Auslegung an keiner Stelle auf die Maßnahmen eingeht, die heute die größte Bedrohung der Privatsphäre darstellen.

Die "Dynamic Coalition on Internet Rights and Principles", eine Arbeitsgruppe des Internet Governance Forums, das die Weiterentwicklung und Nutzung des Internets diskutiert, will ein umfassendes Update erarbeiten. Die Gruppe aus Expertinnen und Experten hat sich die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte Stück für Stück vorgenommen und auf das digitale Zeitalter angewendet. Beispielsweise halten sie fest: Das Recht auf Bildung beinhaltet das "Recht auf Bildung im und durch das Internet", in der Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit steckt auch die "Freiheit der Online-Versammlung und -Vereinigung", also zum Beispiel die Freiheit, sich in digitalen Sozialen Netzwerken zusammenzufinden.

Ausufernde Überwachung oder Internetzensur
© Lewis Tse Pui Lung/Shutterstock

Mit den existierenden Rechten haben wir also auch im digitalen Zeitalter bereits viel in der Hand. Selbst wenn Detailfragen ungeklärt sein mögen: Es gibt schlicht keine vernünftige Interpretation des Rechts auf Privatsphäre, nach der etwa die globale Massenüberwachung, wie sie Edward Snowden enthüllt hat, rechtmäßig sein könnte.

Ob es trotzdem sinnvoll ist, neue "digitale Menschenrechte" zu formulieren, ist eine spannende Frage. Wir müssen sie aber nicht erst beantworten, bevor wir uns gegen Massenüberwachung zu wehren beginnen. Das Internet ist neu, aber es ist keine seltsame Parallelwelt und wenn wir sie betreten, verlieren wir nicht unsere Menschenrechte. Sie gelten dort ebenso wie offline. Es kommt darauf an, die existierenden Rechte endlich konsequent zu verwirklichen und zu schützen – offline und online.

Selmin Çalışkan ist seit März 2013 Generalsekretärin der deutschen Sektion von Amnesty International. Sie war in der Flüchtlings- und Migrantenarbeit tätig. Von 2003 bis 2010 baute sie für die Frauenrechtsorganisation Medica Mondiale den Bereich Menschenrechte und Politik auf und leitete diesen. Dabei beriet sie unter anderem Organisationen in Afghanistan, der Demokratischen Republik Kongo und Liberia. Anschließend arbeitete sie für die Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit in Afghanistan und European Women's Lobby in Brüssel.