"Das ist Evolution in Echtzeit"

Helge Karch, Mitglied der nationalen Forschungsplattform für Zoonosen Helge Karch, Mitglied der nationalen Forschungsplattform für Zoonosen

Ein kleines Bakterium machte ihn bundesweit bekannt: Prof. Dr. Helge Karch, Mitglied der nationalen Forschungsplattform für Zoonosen, enttarnte den Verantwortlichen der jüngsten EHEC-Erkrankungswelle und lieferte Labors einen passenden Schnelltest, um Verdachtsfälle sicher abzuklären. Welche Chancen und Risiken die Infektionsforschung heute und in Zukunft birgt, erläutert er im Gespräch.

EHEC hat Deutschland und Europa wochenlang in Atem gehalten. Warum war es so schwierig, dem Erreger auf die Schliche zu kommen und Betroffene zu behandeln?
Karch: Die Erreger sind unglaublich flexibel. Sie funktionieren nach dem Baukasten-Prinzip: Während sie in unserem Darm leben, nehmen sie neue Module auf und geben andere ab. Das ist keine Evolution in Jahrmillionen, sondern in Echtzeit.

Kam die Epidemie, die im Mai ihren Lauf nahm, auch für Sie überraschend?
Karch: Das war tatsächlich überraschend. Ich hatte überhaupt nicht damit gerechnet, dass EHEC-Infektionen in dieser Größenordnung wieder auftreten können. Bislang hatten wir in Deutschland alle fünf bis sieben Jahre kleinere Ausbrüche mit vielleicht 20 bis 35 HUS-Fällen.Zuletzt verzeichnete das Robert-Koch-Institut mehr als 4.335 EHEC-Fälle, erst langsam klang die Erkrankungswelle ab.

Was machte den EHEC-Erreger so aggressiv?
Karch: Der zuletzt kursierende Typ, wir nennen ihn HUSEC041, ist aggressiv, aber viele andere HUSEC-Stämme sind ebenfalls hochgefährlich. Unsere Erbgutanalyse hat gezeigt, dass HUSEC041 zusätzliche Gene aufgenommen, dafür aber andere verloren hat. Von einem Giftstoff, dem für die hochgefährlichen EHEC-Varianten typischen Shiga Toxin 2, produziert er mehr als der alte Vergleichsstamm. Außerdem bindet er intensiv an die Darmschleimhaut.

Ist es nicht frustrierend für einen Forscher, sich diesen ständig neuen Voraussetzungen stellen zu müssen?
Karch: Im Gegenteil, das macht es spannend. Diese enorme Flexibilität und wie diese Plastizität des Genoms entsteht, das sind alles Fragen, die wir uns in Zukunft verstärkt stellen müssen. Zudem zeigt sich im Krisenfalle, dass sich – wie beim unlängst erfolgten EHEC-Ausbruch – die Grundlagenforschung über mehr als zwei Jahrzehnte auszahlt und bis in die Praxis ausstrahlt.

Gibt es ein Mittel gegen das tückische Bakterium?
Karch: Das beste Mittel ist die richtige Hygiene. In Münster testen wir zurzeit in einer großen Versuchsreihe, wie die Bakterien auf verschiedene Antibiotika reagieren. In den meisten Fällen ist es so, dass die Keime dann besonders viel von dem Shiga Toxin freisetzen. Aber vielleicht finden wir ein Antibiotikum, bei dem das nicht so ist. Das könnte man einsetzen, um Erkrankte zu behandeln. Es wäre aber auch wichtig,  um die Menschen, die den Erreger in sich tragen, ohne daran zu erkranken – die so genannten Dauerausscheider, wenn es sie denn gibt – von dem EHEC-Typ zu befreien.

Lässt sich ein Impfstoff zum Schutz vor EHEC entwickeln?
Karch: Prinzipiell ist das möglich. Darüber werden wir nachdenken müssen, wenn sich herausstellt, dass uns HUSEC041 dauerhaft Probleme bereitet.

Das bedeutet, Sie werden die EHEC-Erreger auch weiterhin erforschen?
Karch: Der aktuelle HUSEC-Erreger ist einer von 42 in meiner „Kollektion“. Darunter sind viele Stämme, die noch nicht untersucht sind, da sie bislang kaum aufgetreten sind. Die jüngsten Ereignisse zeigen uns aber, dass wir diese „Minoritäten“ genauer untersuchen sollten und müssen, damit wir beim Ausbruch einer neuen Infektionswelle schnell helfen können. Daher muss man das gewonnene Material auf jeden Fall nutzen und in einer Biobank aufbewahren. Seit 15 Jahren archivieren wir hier in Münster alle EHEC-Erreger, die zu Erkrankungen geführt haben.

Wie hilft diese Biobank beim Ausbruch von Infektionskrankheiten?
Karch: Im jüngsten EHEC-Fall konnten wir zwei Tage nach Eingang der ersten Proben von betroffenen Menschen feststellen, um welchen Erreger es sich handelt. Durch einen Abgleich mit Proben in unserer Datenbank stellte sich heraus, dass dieser EHEC-Typ bereits 2001 zu einer HUS-Erkrankung geführt hat. Ohne dieses gesammelte Material wüssten wir jetzt auch nicht, dass der Erreger in den zwischen den beiden Fällen liegenden Jahren eine Resistenz gegen Antibiotika ausgebildet hat. Das gesammelte Wissen in der Datenbank wird uns auch beim nächsten Fall einer Infektionskrankheit helfen – und zu einer hoffentlich schnellen Identifikation des Verursachers beitragen.

Zur Person:
Prof. Dr. Helge Karch (58) ist Mitglied der nationalen Forschungsplattform für Zoonosen und leitet das Institut für Hygiene der Medizinischen Fakultät der Universität Münster. Seit 2005 ist an seinem Institut das Konsiliarlabor des Robert Koch-Instituts für das Hämolytisch-urämische Syndrom (HUS) angesiedelt.

 

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Weitere Informationen:

Bundesforschungsministerium
Alles zum Thema Gesundheitsforschung im Bereich Infektionskrankheiten und Entzündungen stellt das Bundesforschungsministerium bereit:
Infektionskrankheiten und Entzündungen

 

Bundesgesundheitsministerium / Robert Koch Institut
Allgemeine und aktuelle Informationen finden Sie unter: 
Allgemeine EHEC-Informationen
Aktuelle Empfehlungen

 

Biotechnologie.de
Unser Partner biotechnologie.de berichtet aktuell aus der Forschung, etwa vom Institut für Hygiene am Universitätsklinikum Münster: 
Infektionsforscher jagen das EHEC-Bakterium

 

Bundesinstitut für Risikobewertung
Das Bundesinstitut für Risikobewertung bietet zweierlei: 
Verbrauchertipps zum Schutz vor Infektionen mit enterohaemorrhagischen E. Coli (EHEC)
Informationsseite rund um EHEC
Empfehlungen des Bundesinstituts für Risikobewertung zu EHEC

 

Nationale Forschungsplattform für Zoonosen
Unser Partner, die Nationale Forschungsplattform für Zoonosen bietet auf Ihrer Internetplattform zahlreiche Hintergrundinformationen:
Hintergrundinformationen zu den aktuellen EHEC-Infektionen

 

Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung
Umfassende Hinweise zu Hygiene und Tipps zur Vermeidung von Infektionen mit EHEC bietet die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung:
EHEC-Infektionen: Hygiene beachten

 

Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf (UKE), Institut für Medizinische Mikrobiologie, Virologie und Hygiene
Das Institut hat gemeinsam mit Forschern des Beijing Genomic Institut das Erbgut des EHEC-Erreger entschlüsselt.
Zum Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf (UKE), Institut für Medizinische Mikrobiologie, Virologie und Hygiene

 

Konsiliarlabor für Hämolytisch– Urämisches Syndrom (HUS)
Aktuelle mikrobiologische Laborergebnisse im Rahmen des EHEC Ausbruchs
Zu den Laborinformationen zum EHEC Ausbruchsstamm

 

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