Wissenschaftsjahr 2014 - Die Digitale Gesellschaft

Digital Citizen: Der Bürger aus Neuland

Blick in die Zukunft der politischen Kommunikation

Politisch ungebunden, aber nicht entpolitisiert: Mit dem Digital Citizen tritt ein neuer Typ informierter Bürger auf den Plan. Aufgewachsen mit Computer, Mobiltelefon und Socialmedia-Profilen wird er über klassische Kommunikationskanäle nur peripher erreicht, sucht sich seine politischen Informationen lieber selbst zusammen - und schickt sich an, die Zukunft zu bestimmen.

Eine junge Frau, im Hintergrund ist eine Kreuzung
Ein neuer Prototyp: der Digital Citizen (©michelaneous / photocase.de)

Ein Blogbeitrag von Prof. Dr. Gerhard Vowe

 

Yannis Herder ist 24 und wohnt in Berlin-Neukölln. Er hat gerade sein Bachelor-Studium der Amerikanistik abgeschlossen und bewirbt sich um einen Masterstudienplatz. Sein Monatseinkommen ist schmal: 500 Euro von den Eltern, 100 von den Großeltern, etwa 200 durch Jobben in einem Presseausschnittdienst. Ein Auto hat Yannis nicht. Medientechnisch ist er aber sehr gut ausgestattet: für Zuhause und die Uni ein Mac, für unterwegs ein iPhone 5S. Damit ist er praktisch den ganzen Tag online. Yannis chattet über WhatsApp mit Freunden, liest aktuelle Meldungen bei "Spiegel Online" oder bei "nytimes", aktualisiert seinen Facebook-Status und twittert seine Meinung zu dem, was ihn bewegt oder amüsiert - zum Beispiel zu den Wahlplakaten, die er auf dem Weg zur Uni gesehen hat. Bei den Europawahlen hat Yannis nach Konsultation des Wahl-O-Mats diesmal die Piraten und nicht die Grünen gewählt. Von politischen Fernsehsendungen sieht er nur Auszüge über Mediatheken und YouTube, und auch das meist nur, wenn ihm jemand einen Link schickt. Gedruckte Zeitungen nimmt er nur zur Kenntnis, wenn sie irgendwo herumliegen. Er besucht keine Versammlungen und geht nicht auf Demonstrationen. Yannis ist durchaus politisch interessiert, weniger an dem, was so an täglichem Klein-Klein in Berlin erörtert und entschieden wird, erst recht nicht an dem Hick-Hack der Parteien. Aber ihn interessieren lokale Auseinandersetzungen wie jene um die Nutzung des Berliner Flughafengeländes Tempelhof oder auch die Konflikte in Europa und in der Welt. Die politische Entwicklung in den USA verfolgt er ebenfalls.

Yannis ist politisch nicht auf eine Organisation festgelegt und schon gar nicht ideologisch gebunden. Er ist sehr freiheitsorientiert, aber es soll auch gerecht zugehen in der Welt. Sicherheit und wirtschaftliche Prosperität sind für ihn nicht so entscheidend, eher noch Fragen des Umweltschutzes. Das Maß seiner politischen Aktivität schwankt. Manchmal verfolgt er über mehrere Tage hinweg eine Sache, dann wieder eine Woche lang kaum etwas. Das hängt nicht nur von der allgemeinen Stimmungslage ab, sondern auch von individuellen Belastungen und persönlichen Vorlieben. Er meint, mit seinem Engagement etwas bewirken zu können. Er ist der Auffassung, dass so etwas einfach dazugehört und fühlt sich als Teil einer größeren Menge, die insgesamt doch einiges bewegen kann. Dafür hat er schon einige Beispiele erlebt, wie etwa ACTA, die Sexismusdebatte (#aufschrei) oder den Kampf für das Bleiberecht von Flüchtlingen. Allerdings ist er nicht bereit, zu viel Zeit seines Lebens zu investieren. Aus seiner Sicht müsste sich vieles ändern, aber diese Veränderungen brächten auch wieder Risiken mit sich.

Prototyp für zehn Millionen Deutsche

Junge Frau mit Computer
15 Prozent: Jung und politisch im Netz unterwegs (© not available/ photocase)

Yannis ist der Prototyp eines Digital Citizen - so nennen wir diejenigen, die sich fast vollständig über das Netz politisch informieren und über das Netz ihre Meinung kundtun, um gesellschaftliche Entscheidungen zu beeinflussen. Sie meiden herkömmliche Formen politischer Kommunikation wie das Lesen gedruckter Zeitungen oder das Besuchen von Versammlungen. Aber dafür sind sie im Netz auch politisch unterwegs. Mittlerweile können sie alle Aktivitäten über ihre Smartphones integrieren - öffentliche Kommunikation ohne Medienbruch. Diese Gruppe bildet ihre eigenen Verhaltensweisen heraus und bettet das Politische in ihre Online-Welt ein. Sie hat sich in den letzten zehn Jahren herausgebildet und umfasst mittlerweile 15 Prozent der Bevölkerung - das sind mehr als 10 Millionen Menschen. Die meisten sind jünger als 30 Jahre, sie sind also mit Computer und Netz aufgewachsen. Die Digital Citizens sind der Teil der Digital Natives, der das Netz auch für politische Kommunikationsaktivitäten nutzt. Das heißt: Nicht jeder junge Deutsche ist in dieser Gruppe, sondern nur diejenigen, die über das Netz auch politisch kommunizieren.

Dieser Einordnung liegt eine Langzeitstudie zugrunde, in der eine repräsentative Stichprobe der deutschen Bevölkerung von 2002 bis 2009 nach ihren politischen Kommunikationsaktivitäten befragt wurde: von der Zeitungslektüre bis zur Unterschrift unter elektronische Petitionen (Emmer, Vowe & Wollig 2011). Daraus ist eine Typologie der Bürger in Deutschland entstanden. Die Typen wurden gebildet nach den politischen Kommunikationsaktivitäten der Menschen. Dabei wurden drei Formen politischer Kommunikation in den Blick genommen: wie sich Individuen über politische Dinge informieren, wie sie sich mit anderen über politische Themen austauschen und wie sie partizipieren, also ihre Meinung öffentlich kundtun, um auf politische Entscheidungen Einfluss zu nehmen. Je nachdem wie ähnlich sich diese Personen in ihren Kommunikationsaktivitäten waren, wurden sie in Gruppen eingeteilt. Dafür gibt es statistische Verfahren, sogenannte Clusteranalysen.

Ach, geh mir weg mit deiner Politik

Die größte Gruppe ist die "Schweigende Mehrheit" - das sind mehr als 50 Prozent der Bevölkerung. Zu ihr gehören Personen, die wenig Interesse am politischen Teil der Tageszeitung haben, die nebenbei die Tagesschau schauen und mit halbem Ohr im Auto die Nachrichten hören. Sie unterhalten sich auch nicht mit Kollegen, Verwandten oder Freunden über Politik. Vieles ist ihnen bei weitem wichtiger: Gesundheit, Familie, Nachbarschaft, Arbeitsbedingungen, Urlaub, Geld. Für diese 50 Prozent hat die sich vollziehende Veränderung der politischen Kommunikation durch Online-Medien so gut wie keine Bedeutung. In diesem Segment gibt es deshalb keinerlei Anzeichen für eine politische Mobilisierung durch das Netz. Ein weiteres gutes Drittel der Bevölkerung ist stärker politisch interessiert und unterschiedlich aktiv. Sie sind meistens etwas älter und haben ihre jeweils eigenen Verhaltensweisen ausgebildet, denen wir die Etiketten "Eigennützige Interessenvertreter", "Traditionell Engagierte" und "Organisierte Extrovertierte" gegeben haben. Auch an deren politischer Kommunikation verändern die Online-Medien wenig, sie leben politisch noch weitgehend in einer Offline-Welt.

Gruppe junger Menschen überquert eine Straße
Digital Citizens: Ihnen gehört die Zukunft (© cydonna/ photocase)

Elite von Morgen

Anders die Digital Citizens: Sie profitieren voll von den Möglichkeiten für politische Kommunikation, die das Netz bietet. Dieser Gruppe gehört die Zukunft. Denn die Angehörigen dieser Gruppe wachsen in gesellschaftliche Schlüsselpositionen hinein. Deshalb wird dieser Bürgertyp die politische Kommunikation insgesamt prägen. Es ist also nicht so, dass die traditionelle politische Kommunikationselite sich auch noch der neuen Möglichkeiten im Online-Bereich bemächtigt und dadurch ihren Vorsprung gegenüber anderen vergrößert, sondern es bildet sich ein neues Elitensegment heraus. Diese Gruppe ist auch viel weniger an die nationalen Grenzen von Politik gebunden. Darum auch der Titel für diese Gruppe und für diesen Beitrag: Digital Citizen. Es sind Weltbürger, deren Sprache mehr und mehr Englisch ist. Die Digital Citizens werden sich mit dem Älterwerden nicht mehr in traditionelle Formen der Kommunikation eingewöhnen. Sicherlich werden sie ihre Kommunikationsweisen verändern - das aber auf Basis und in Weiterentwicklung des Netzes. Denn wir stehen erst am Anfang der Entwicklung. In den letzten 15 Jahren haben sich immer wieder überraschende Sprünge ergeben - entstanden in der Innovationskultur der Digital Natives.

Weckruf für Medien und politisches Establishment

Dies hat zur Folge, dass etablierte mediale und politische Organisationen und auch Professionen wie Journalisten, PR-Verantwortliche und Berufspolitiker hinzulernen müssen, wenn sie den Anschluss an die Online-Welt nicht verlieren wollen. Wollen sie den Anschluss an die Elite von Morgen nicht verlieren, müssen sie ihre Kommunikation radikal umstellen. Das bleibt nicht ohne politische Folgen: Darstellung und Herstellung von Politik sind eng verwoben. In einem demokratischen Kontext bedürfen kollektiv bindende Entscheidungen einer öffentlich erörterbaren Legitimität - darum ist die politische Kommunikation von zentraler Bedeutung für die Politik. Von daher sind die Veränderungen des kommunikativen Kontextes für die Politik von zentraler Bedeutung. Yannis und die Gruppe, für die er steht, werden diese Entwicklung gestalten - mittels der kommunikativen Möglichkeiten des Netzes.

Prof. Dr. Gerhard Vowe ist Professor für Kommunikations- und Medienwissenschaft an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf und Sprecher der DFG-Forschergruppe "Politische Kommunikation in der Online-Welt".

Weiterführende Literatur:

Emmer, M.; Vowe, G. & Wolling, J. (2011): Bürger Online. Die Entwicklung der politischen Online-Kommunikation in Deutschland. Konstanz.

Füting, A. (2014): Politische Kommunikation in Deutschland. Eine typologische Längsschnittanalyse individueller politischer Kommunikation. Berlin: Vistas.