Wissenschaftsjahr 2014 - Die Digitale Gesellschaft

Ein menschliches Gedächtnis für das Internet

Ein sozioinformatischer Ansatz zum „Recht auf Vergessen“ im World Wide Web

Albenstapel auf Holzkommode
Unser digitales Gedächtnis: Das Netz vergisst nichts?

Ein Blogbeitrag von Prof. Dr. Katharina Zweig

Letzten Sonntag hatten wir ein Familienfest – und wir, die neue Elterngeneration, haben uns köstlich damit amüsiert, die kleineren und größeren Fehltritte unseres Nachwuchses auszutauschen. Schlecht war natürlich, dass unsere Eltern sich bald dazusetzten und dann unsere Fehltritte zum Besten gaben – zum Amüsement der Enkel und Enkelinnen. Auf wundersame Weise waren es aber gar nicht mehr so viele Geschichten, nur noch eine Auswahl der besten Anekdoten. Viele der Geschichten, die uns als Kindern so unendlich peinlich waren und die lange Zeit in der Familientradition ihren festen Platz hatten, waren verdientermaßen endlich dem kollektiven Vergessen anheimgefallen.

Es gibt auch ein „Recht auf Erinnern“

Der Mensch hat ein Recht auf Vergessen auch im Internet – das hat der Europäische Gerichtshof festgestellt. Aber es gibt auch ein "Recht auf Erinnern", ein Recht der Gesellschaft darauf, sich beispielsweise einen Überblick darüber zu verschaffen, ob eine Person immer wieder an verschiedenen Orten als Betrüger auftritt oder ob es neue Betrugsmaschen gibt, gegen die das bisherige Gesetz nicht wirksam genug ist. Dabei kann es durchaus wichtig sein, nicht nur rechtskräftig Verurteilte im Auge zu behalten, sondern auch solche, die immer wieder vor Gericht landen. Hier muss also in einem sozioinformatischen Ansatz das Gesamtsystem aus Individuen, Gesellschaft und der sie verbindenden IT betrachtet werden, um den Konflikt zu lösen.

Wie wird das Recht auf Vergessen umgesetzt?

Seit dem Gerichtsurteil des EuGH bieten Google und andere Suchmaschinen Einzelpersonen an, einen Antrag zu stellen, sodass bei Suchanfragen zu ihrer Person gewisse Links nicht mehr unter den Resultaten der Suche zu finden sind. Damit sind die Webseiten hinter den Links zwar immer noch existent, aber doch so gut wie unauffindbar. Diese Praxis der "beantragten Linklöschung" wird aber dem Recht der Gesellschaft auf Erinnern nicht gerecht. Gäbe es denn auch Lösungen, die beiden Ansprüchen – also dem Recht der Gesellschaft auf Erinnern und dem Recht des Individuums auf Vergessen – gerecht werden? Ich plädiere dafür, die Suchmaschinenalgorithmen neu zu gestalten und sie den bewährten Mechanismen des kollektiven Erinnerns und Vergessens anzupassen. Denn heutige Algorithmen bewerten die Relevanz einer Webseite bezüglich einer Suchanfrage zum einen anhand des Textinhalts – im Sinne eines reinen Aufzählens der darin vorkommenden Worte - und zum anderen nach der Anzahl sowie der Qualität der Links von und zu dieser Website. Weitere Kriterien sind die Aktualität der Webseite und ihre Attraktivität. Diese wird daran gemessen, wie oft der Link auf diese Webseite bisher angeklickt wurde, wenn Google ihn bei früheren oder ähnlichen Suchanfragen aufgelistet hatte.

Ein Problem: positive Rückkopplungen

Diese Kriterien werden benutzt, um festzulegen, ob der Link auf eine Webseite ganz oben oder weiter unten oder gar nicht unter den Suchresultaten zu finden ist. Dabei ist der letzte Punkt besonders bedeutungsvoll: Es handelt sich hier um eine sogenannte "positive Rückkoppelung". Wenn es Google gelingt, einen relevanten Link weit oben zu platzieren, werden viele Nutzer diesen Link anklicken, der damit bei weiteren, ähnlichen Suchanfragen noch höher platziert wird. Sehr ähnlich, aber noch wirkungsvoller, ist eine andere positive Rückkoppelung: die sogenannte "Autovervollständigung". Vielleicht ist es Ihnen schon aufgefallen, dass Google Ihnen bei Ihren Suchanfragen Vorschläge macht, nach was Sie eigentlich suchen wollen. Das ist für mich im Alltag enorm hilfreich bei der Suche nach Lösungen für Fehlfunktionen von Software. Solche Anfragen fange ich oft an mit "SoftwareXY Problem" und schon schlägt Google mir vor, wie andere nach demselben Problem gesucht haben, das ja oft schon länger bekannt ist. Klickt man dann auf einen der Vorschläge, hilft diese menschliche Bewertung des Links wiederum Google, die relevantesten Links zu finden.

© courtney/iStock

Aus einer gezielten Suche wird Neugier

Nun ist der Mensch aber ein merkwürdiges Wesen: Gerade bei Suchanfragen nach Personen verfolgen wir viele der vorgeschlagenen Autovervollständigungen nur aus reiner Neugierde, nicht weil wir ohnehin danach gesucht hätten. Ohne den Vorschlag von Google wären wir vielleicht noch nicht einmal auf die Idee gekommen, nach dieser Kombination zu suchen. So kann man keinen Fussballernamen eingeben, ohne den Zusatz "schwul" angeboten zu bekommen, bei der Eingabe "Angela Merkel" schlägt Google "abgenommen" oder "Diät" vor, und die Suchanfrage Lady Gaga provoziert bei Google die Frage, ob diese ein "guy" sei. Der Algorithmus von Google interpretiert einen Klick auf diese Vorschläge nun genauso, wie bei allen anderen Anfragen: als Zustimmung, dass diese Anfrage genau das sei, wonach wir von vornherein gesucht hätten. Damit rutschen die dazugehörigen Links ganz nach oben in die Suchergebnisse, auch dann, wenn nur eine ähnliche Suchanfrage gestartet wird.

Recherche verdient Ergebnisse

Die Kopplung zwischen dem automatisch handelnden Algorithmus und der natürlichen Neugierde des Menschen, der sich oft insbesondere von schlüpfrigen Skandalen und Affären angezogen fühlt, führt somit dazu, dass diese sich unverhältnismäßig lange in den "Such-Charts" halten – viel länger, als sie dem Kollektiv im Gedächtnis geblieben wären. Dazu kommt noch, dass der Aufklärung eines Skandals oder einer Affäre oftmals viel weniger mediales Interesse zukommt als die vielen kleinen schmutzigen Einzelheiten, die nebenbei ans Licht kommen. Dagegen müssen sich Betroffene wehren können. Sie haben das "Recht auf Vergessen" und müssen es nicht ertragen, dass das reine Eintippen ihres Namens dazu führt, dass sie etwa mit einem angeblichen Vorleben im Rotlicht-Milieu in Verbindung gebracht werden. Dieser Anspruch kommt mit einem großen Aber: Sollte jemand ganz gezielt danach suchen, hat die Gesellschaft ein Recht darauf, dass die entsprechenden Geschichten im heutzutage wichtigsten Archiv der letzten Jahrzehnte wiedergefunden werden können.

Ein humaneres Internet?

Darum gilt, dass die oben genannten positiven Rückkopplungsmechanismen für Suchanfragen, die Personen und vielleicht auch Organisationen betreffen, im wahrsten Sinne des Wortes "humaner" gestaltet werden müssen: Eine Autovervollständigung sollte bei Suchanfragen, die Personen betreffen, konsequent abgeschaltet werden. Diese der Bequemlichkeit dienende Funktion ist inkompatibel mit unserer Art, Informationen über Personen zu bewerten. Eine Autovervollständigung wie "Rotlicht-Milieu", "Skandal", oder "Betrug" weckt bei uns die Erwartung, dass es sich hier erstens um etwas Aktuelles und zweitens um einen Fakt handelt und nicht um einen quasi-neutralen Vorschlag eines automatischen Suchanfragenbewertungssystems. Zudem muss gewährleistet werden, dass bei zeitlich aufeinanderfolgenden Ereignissen nicht diejenigen zuerst gezeigt werden, die die meisten Klicks erzielt haben, sondern die aktuellsten. Bei einer ungerechtfertigten Anklage sind dies also die Gerichtsurteile, die die Unschuld des oder der Angeklagten bestätigen, oder die einsame, kleine Zeitungsnotiz, die besagt, dass noch nicht einmal eine gerichtliche Untersuchung beantragt wurde - auch wenn sie kaum einmal angeklickt wurde.

Das gnädige Vergessen

Auf diese Weise bliebe im Netz, was nicht vergessen werden sollte, und gleichzeitig lernte auch das digitale Gedächtnis das gnädige Vergessen, das wir in unseren sozialen Gesellschaften schon lange pflegen. Auch wenn meine Mutter es dann letzten Sonntag doch nicht lassen konnte und wieder mal die Geschichte erzählte, wie ich meinem Brüderchen damals in den Fuß gebissen habe, um zu sehen, was dann passiert: "Schon damals unsere kleine Wissenschaftlerin!", schließt sie liebevoll. Soviel zur familiären Gnade und dem "Recht auf Vergessen".

© Thomas Koziel, TU Kaiserslautern

Prof. Dr. Katharina Zweig leitet die Arbeitsgruppe "Graphentheorie und Analyse komplexer Netzwerke" an der TU Kaiserslautern. Gleichzeitig ist sie Studiengangkoordinatorin des deutschlandweit einzigartigen Studiengangs "Sozioinformatik", der die Interaktion von Individuen, Organisationen und der Gesellschaft als Ganzem mit IT-Systemen zum Thema hat. Professor Zweig ist zudem GI Juniorfellow und als "Grenzgängerin der Informatik" einer der 39 digitalen Köpfe.