Wissenschaftsjahr 2014 - Die Digitale Gesellschaft

Liebe Überwacher: Es reicht!

Ein offener Brief an die Internet-Wirtschaft

Von Wolfie Christl (Data Dealer)

Wir schreiben das Jahr 2014, und ihr überwacht mich auf Schritt und Tritt. Ihr erfasst beinahe lückenlos meinen gesamten Alltag und sortiert jedes Detail meines Lebens in irgendwelche riesigen Datenbanken ein. Was soll das?

Das Bild zeigt systematisch aufgestellte Figuren, die per Roboterarm bewegt werden.
© datadealer.com CC-BY-SA

Liebe Internet-Wirtschaft, liebe Unternehmen, liebe Überwacher: Es reicht!

Wir schreiben das Jahr 2014, und ihr überwacht mich auf Schritt und Tritt. Ihr erfasst beinahe lückenlos meinen gesamten Alltag und sortiert jedes Detail meines Lebens in irgendwelche riesigen Datenbanken ein. Was soll das?

Ihr beobachtet, was ich einkaufe und wann ich wie viel wofür bezahle. Ihr verfolgt akribisch alle meine Suchbegriffe und Seitenaufrufe im Netz, sogar jeden einzelnen Klick. Ihr benutzt alle Tricks und Finten, um zu erfahren, wer meine Freunde und Bekannten sind und an wen ich wie oft Messages oder SMS schicke. Ihr interessiert euch dafür, auf welche Filme und Musik ich stehe und wie ich mich ernähre.

Ihr verfolgt mich 24 Stunden am Tag und wisst immer genau, wo ich mich gerade aufhalte. Mein E-Book-Reader hat eine Direktleitung zu euch und flüstert euch permanent, was ich gerade lese und wie lange ich auf jeder einzelnen Seite verweile. Am liebsten würdet ihr mir ein Gerät umschnallen, das den ganzen Tag meine Körperfunktionen, meine Pulsfrequenz und meine Schlafdauer misst. Aber zumindest daraus wird bei mir so schnell nichts.

Ihr wollt alles und noch viel mehr

Trotzdem wisst ihr schon ziemlich viel von mir. Und versucht weiter jeden Tag, möglichst alles aus mir herauszulocken: Meine politische Einstellung und meine finanzielle Situation, meine Gewohnheiten und Verhaltensweisen, meine Vorlieben und Abneigungen, meine Bedürfnisse und kleinen Geheimnisse. Dabei ist es euer oberstes Ziel, mich immer und überall möglichst zuverlässig wiederzuerkennen - egal mit welchen technischen Kniffs. Dann erstellt ihr über die Wochen, Monate und Jahre detaillierte Persönlichkeitsprofile über mich und sortiert mich in alle möglichen Schubladen ein.

Das Bild zeigt blaue Figuren, die digitale Kommunikationsgeräte benutzen
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Und wenn ihr bestimmte Dinge nicht direkt von mir erfahren könnt, lauft ihr erst so richtig zur Höchstform auf. Dann packt ihr euer geballtes mathematisch-technisches Know-how aus und werft eure Rechenmaschinen an. Eigentlich reicht euch ein Monat meiner Einkäufe, und ihr könnt mich schon recht gut einschätzen. Denn ihr habt die Einkäufe von Millionen in euren Datenbanken und in Verbindung mit Umfragen, Statistiken und anderem Datenmaterial könnt ihr euch den Rest einfach ausrechnen. Ich wohne in einer schlechten Gegend? Ich bin mit seltsamen Leuten befreundet? Ich interessiere mich im Netz für psychische Krankheiten? Jede weitere Info macht die Sache zuverlässiger. Selbst ganz nebensächliche Details benutzt ihr, um in meinen Verhaltensweisen Muster zu erkennen und diese automatisch mit anderen Mustern zu vergleichen.

Ihr wollt vorhersagen, wie ich mich verhalten werde

Und dann geht ihr den nächsten Schritt. Euch interessiert nicht nur meine Vergangenheit. Ihr versucht vorherzusagen, wie ich mich in Zukunft verhalten könnte. Wohin ich klicken werde. Welche Produkte ich kaufen könnte. Wohin ich reisen werde. Wen ich wählen könnte. Welche Krankheiten ich bekommen könnte. Wie sich meine finanzielle Situation entwickeln wird. Welche Risiken ich eingehen werde. Ob ich kriminell werden könnte. Das muss alles nicht hundertprozentig zuverlässig sein. Ihr seid zufrieden, wenn diese Prognosen zumindest teilweise stimmen.

Und ihr arbeitet wie wild an weiteren Verbesserungen eurer Analysen. Und all diese Informationen über mich verkauft ihr dann an die Meistbietenden. Ihr entwickelt Geschäftsmodelle, die ausschließlich darauf beruhen, mein Leben und meinen Alltag zu durchleuchten und damit Geld zu verdienen. Geschäftsmodelle, die es anderen ermöglichen, bessere "Entscheidungen" über mich zu treffen. Bin ich es wert, mit diesen und jenen Angeboten beglückt zu werden? Wie gestaltet sich mein individueller Preis für bestimmte Produkte und Leistungen? Wie lange hänge ich bei der Telefon-Hotline in der Warteschleife? Welche Jobs, Wohnungen, Kredite oder Versicherungen bekomme ich? Noch stehen euch hier manchmal die Datenschutzgesetze im Weg. Aber erstens kümmern euch die oft wenig und zweitens arbeitet ihr dran, hier den Weg frei zu machen.

Ich habe aber nicht die Absicht, in den Wald zu ziehen und zum Eremiten zu werden. Ich will das Internet und all die kommunikativen Möglichkeiten nutzen!

Dabei bin ich euch eigentlich völlig egal

Dabei ist euch egal, welche Auswirkungen eure Einschätzungen auf mich haben. Euch ist auch egal, dass die von euch gespeicherten Informationen über mich wohl nie wieder verschwinden und ich keine Ahnung habe, wo die rumliegen. Nicht nur, weil euch egal ist, was eure Kunden mit meinen Daten machen. Sondern auch, weil ihr euch nicht einmal darum kümmert, wer unberechtigt Zugriff darauf bekommt. Jeden Tag taucht eine neue Sicherheitslücke auf, durch die euch Millionen an Datensätzen einfach so verloren gehen.

Außerdem ist mir schon klar, dass ich euch persönlich eigentlich ziemlich egal bin. Ich bin für euch nur ein Datensatz unter Millionen, eine Art digitale Verschubmasse mit bestimmten Eigenschaften, Vorlieben und Risiken. Und obwohl ihr sogar daran arbeitet, mich nur anhand meiner Bewegungen in einem schlechten Video einer Überwachungskamera wiederzuerkennen, bin ich für euch nur eine gesichtslose Mensch-ärgere-dich-nicht-Figur, die von Kopf bis Fuß vermessen und klassifiziert wird. So wie Millionen andere.

Du musst das Internet nicht benutzen!

Ihr wendet jetzt natürlich ein: Warum zum Teufel beschwerst du dich? Du überlässt uns all diese Informationen doch freiwillig! Niemand muss sich bei unserem sozialen Netzwerk anmelden. Niemand muss ein Smartphone benutzen. Niemand muss unsere App installieren. Niemand muss unseren E-Book-Reader verwenden. Niemand muss das Internet nutzen. Ernsthaft? Das ist eure Antwort? Ich habe aber nicht die Absicht, in den Wald zu ziehen und zum Eremiten zu werden. Ich will das Internet und all die kommunikativen Möglichkeiten nutzen. Weil sie großartig sind. Aber ich habe ein gewaltiges Problem mit euch: Ich kann euch nicht vertrauen.

Das Bild zeigt blaue Figuren, die sich im Park aufhalten und digitale Medien benutzen
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Wenn ich einen Tag rumsurfe, schickt mein Browser still und heimlich jeden meiner Klicks an hunderte Firmen. Ihr lasst mir oft genug keine Wahl und versucht permanent, mich zu überrumpeln. Ihr ändert meine Datenschutz-Einstellungen und eure allgemeinen Geschäftsbedingungen von einem Tag auf den anderen. Gleichzeitig verheimlicht ihr mir, was ihr über mich wisst und seid selber völlig intransparent. Ihr arbeitet mit Hochdruck an weiteren Ideen, eure Datenschätze wie auch immer zu verwerten. Ihr verschwendet keinen Gedanken daran, wohin mich das führen wird, was ihr macht.

Ich weiß schon, ich kann mich zumindest teilweise vor euch schützen. Ich kann einen Adblocker installieren und damit einen Teil eurer Überwachungsmaschine ausschalten. Ich muss nicht jede App runterladen, die so ganz nebenbei vollen Zugriff auf meine GPS-Standortdaten und Kontaktlisten anfordert. Ich muss mich nicht überall registrieren und überall dabei sein. Wobei: Selbst das hilft oft nicht. Ihr erfasst mich bekanntlich sogar, wenn ich nicht bei euch angemeldet bin. Wenn ihr die Infos über mich nicht von mir direkt bekommt, fragt ihr einfach meine Freunde und Bekannten. Und irgendjemand geht euch immer auf den Leim.

Internet-Nutzer aller Länder – vereinigt euch?

Liebe Digital-Wirtschaft, liebe Unternehmen, liebe Überwacher: Ihr wisst, dass wir das Internet im Grunde toll finden. Ihr rechnet damit, dass wir uns euch gegenüber ohnmächtig fühlen und dass wir all die Medienberichte über eure Machenschaften immer gleich wieder vergessen. Ihr denkt, ihr könnt mit uns machen, was ihr wollt. Aber ich bin zuversichtlich, dass das letzte Wort noch nicht gesprochen ist. Wollen wir wirklich eine Informationsgesellschaft, in der wir 24 Stunden am Tag auf Schritt und Tritt überwacht werden? Ich hoffe, es steht euch keine große Zukunft bevor. Ich hoffe auf eine andere Art von Informationsgesellschaft und auf Online-Services und Apps, denen wir vertrauen können. Ich hoffe darauf, dass ihr transparenter werdet und nicht immer nur wir. Und auf offene Technologien, die eine selbstbestimmte Nutzung unserer persönlichen Daten in ihre DNA eingebaut haben.

Voraussetzung dafür ist aber, dass wir diese andere Art von Informationsgesellschaft auch lautstark einfordern. Vielleicht brauchen wir dazu so etwas wie eine digitale Ökologie-Bewegung. Ähnlich wie die Umweltbewegung vor 40 Jahren massiv damit begonnen hat, Rücksichtnahme auf unsere biologischen Lebensgrundlagen einzufordern, ist es wohl Zeit für eine breite Bewegung, die für andere Rahmenbedingungen in unseren Informationslandschaften streitet. Eine Bewegung, die gut vernetzt, medienkompetent und nachdrücklich ihre digitalen Rechte einfordert. Wohin soll die Reise gehen? In den letzten Jahren haben wir das weitgehend euch allein überlassen - den Internet-Konzernen, Werbe-Netzwerken, App-Betreibern und allen möglichen anderen Datensammel-Unternehmen. Es reicht!

P.S.: Lieber Staat, du bist heute zu kurz gekommen, sorry. Dabei bist du um nichts harmloser. Du leidest an einem ähnlichen Überwachungs-Fetischismus, wie gerade seit 2013 wieder sehr deutlich geworden ist. Aber zu dir ein andermal.

Zur Person

Porträtbild Wolfie Christl

Wolfie Christl lebt in Wien und ist Netzaktivist. Er ist einer der Entwickler des international mehrfach ausgezeichneten Online-Spiels Data Dealer - das sich mit viel Witz und Ironie den Themen persönliche Daten, Überwachung und Datenschutz widmet.

 

Zur Website von Data Dealer

Zum Beitrag von Wolfie Christl bei der Konferenz TEDxVienna