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"Dauerstress wirkt sich negativ auf den Körper aus."

 

Die Psychotherapeutin Anneliese App arbeitet seit mehr als 20 Jahren beim Studentenwerk Berlin. Im sozialpsychologischen Dienst berät sie Studierende, die unter Druck stehen, belastet sind, die das Gefühl haben, alleine nicht mehr weiter zu kommen.

Frau App, wie viele Menschen kommen zu Ihnen?

Anneliese App: Wir hatten in den vergangenen Jahren in unserer Beratungsstelle 1.400 bis 1.500 Neuzugänge. Wir bieten erst einmal fünf Termine als Eingangsberatung, die dauern jeweils 50 Minuten. Wir schauen dann, ob weitere Einzelgespräche oder ein Gruppenangebot an unseren Beratungsstellen sinnvoll sind. Oder ob wir eine Empfehlung nach außen geben, zum Beispiel eine Psychotherapie bei einem niedergelassenen Therapeuten empfehlen, eine andere spezifische Beratungseinrichtung, einen Arzt oder einen Psychiater.

Sie sind schon lange in Ihrem Beruf tätig. Verzeichnen Sie einen Anstieg der Beratungssuchenden? Daran anschließend gleich eine zweite Frage: Trauen sich Studierende heute eher zur Psychologin als früher?

Anneliese App: Zum ersten Teil der Frage: 2006/2007 gab es einen deutlichen Anstieg der Beratungen. Das hatte mit der Umstellung auf das Bachelor- und Master-Studium zu tun. Magister- und Diplomstudierende fühlten sich unter Druck, sich um ihren Studienabschluss zu kümmern, weil diese Studiengänge abgewickelt werden sollten. Die neuen, verschulteren Studiengänge geben mehr Sicherheit durch stärkere Kontrolle, aber Schwierigkeiten im Hochschulsystem oder Leistungsprobleme der Studierenden werden schneller deutlich.

Und zum zweiten Teil der Frage. Gilt es noch als Stigma, psychologische Beratung einzuholen?

Anneliese App: Ich würde sagen, im Vergleich zu meinen Anfangszeiten in diesem Beruf, hat sich das gesellschaftliche Klima durchaus so gewandelt, dass es kein Tabu mehr ist, sich psychologisch beraten zu lassen. Zum Beispiel kommen Studierende zu uns, weil sie von Kommilitonen den Tipp bekommen haben. Das zeigt ja, dass sie über ihre Erfahrungen sprechen. Wir merken auch, dass sich Öffentlichkeitsarbeit auswirkt, wenn beispielsweise etwas über unsere Arbeit in den Medien berichtet wird, kommen mehr Leute.

Was sind die Gründe, weswegen Studierende zu Ihnen in die Beratung kommen? Man liest manchmal, Studierende leiden unter Überbelastung, nehmen sogar Medikamente, um länger wach und arbeitsfähig zu sein.

Anneliese App: Zu uns kommenden Studierende bei Problemen im Studium wie Lern- und Arbeitsstörungen, ungenügendem Zeitmanagement, Schreibproblemen, Prüfungsängsten, Zweifel an der Studienwahl oder mit persönlichen Problemen. Diese persönlichen Probleme beinhalten vielfach spätadoleszente Entenwicklungsthemen wie Identität- und Selbstwertprobleme, Partnerschaftskonflikte, depressive Verstimmungen, Probleme mit den Eltern, der Familie oder anderen Kontakten. Studierende, die zu uns kommen, berichten kaum darüber, dass sie aufputschende Medikamente nehmen, um ihr Pensum zu schaffen. Eher geht es dann in die Richtung, dass sie abschalten wollen und dazu Drogen wie Alkohol und Marihuana konsumieren. Oder was bei männlichen Studierenden häufiger vorkommt: es entwickelt sich eine Internetsucht. Das sind natürlich keine Lösungen, sondern so entstehen neue Probleme.

 

Erschöpfungsspirale

 

Wie können Sie in diesen Fällen helfen?

Anneliese App: Wenn es um Suchtverhalten geht, verweisen wir auf entsprechende Fachstellen. Das ist aber der zweite Schritt. Grundsätzlich bieten wir ein unbürokratisches Angebot. Wir betrachten gemeinsam mit dem Ratsuchenden seine gesamte derzeitige Lebenssituation, seit wann die Schwierigkeiten bestehen, was die Auslöser sind, wie der Umgang mit den Belastungen oder inneren Konflikten ist, welche Ressourcen da sind oder noch entwickelt werden können.

Die Übergänge von einer als belastend empfundenen Situation bis hin zu einer Krankheit sind ja wahrscheinlich fließend?

Anneliese App: Ja, wobei klar ist, dass Dauerstress sich auf den Körper negativ auswirkt. Aber natürlich hängt es immer von der Persönlichkeit ab, wie mit einer als schwierig empfunden Situation umgegangen wird. Und in diesen durchstrukturierten Studiengängen mit engen Zeifenstern gibt es Stressfaktoren weil Studierende schneller befürchten müssen, den Anschluss zu verlieren zu den Kommilitonen, da nicht bestandene Kurse teilweise erst wieder ein Jahr später angeboten werden. Mancher fühlt sich in bestimmten Fächern oder vor wichtigen Prüfungen überfordert, gönnt sich keine Pause mehr und keinen Ausgleich, wodurch sich das Überforderungsgefühl verstärkt. Die eigenen Grenzen werden übergangen und sie schützen sich nicht vor übergroßem Druck. Manche, die Prüfungen vermasseln, fühlen sich beschämt, ziehen sich zurück, vermeiden den Kontakt zu Kommilitonen und Lehrpersonen, verfallen in Lähmung und Resignation. Andre stehen verunsichert vor Anforderungen wie etwa Auslandspraktika und flunkern ihrem Umfeld etwas vor. Es kann zu einem depressiven Gedankenkreislauf kommen, wo Versagensängste und Zukunftsängste eine große Rolle spielen. Wieder andere – vor allem hier in Berlin – haben ein Organisationsproblem, müssen Studium und Nebenjob unter einen Hut bekommen. Oder wie Medizinstudenten zum Beispiel, weite Wege quer durch die Stadt, um alle Lehrveranstaltungen besuchen zu können.

Sie schauen, wo die Ursachen für das Unwohlsein liegen. Könnte man sagen, dass Sie dabei helfen, den Kopf aufzuräumen?

Anneliese App: Wenn man so will, ja. Einige wissen schon sehr genau, was ihnen zusetzt. Andere spüren Symptome wie Tics, Schlafstörungen oder Konzentrationsprobleme. In den meisten Fällen kommen neben den Sorgen, die mit Schwierigkeiten im Studium zu tun haben, Krisen aus anderen Lebensbereichen hinzu. Studierende sind ja in der Regel junge Menschen, die sich noch entwickeln, die in eine Identitätskrise geraten können, bei denen Selbstzweifel oder Zweifel an der momentanen Lebensführung oder Motivationsfragen auftauchen. Sie sind dabei, sich vom Elternhaus abzulösen, das Leben in die eigene Hand zu nehmen und ihre eigenen Grenzen auszuloten. Bei einem jungen Mann war der Auslöser für eine Krise, dass seine Eltern zeitversetzt schwer krank wurden. Er hat zwei Prüfungszeiträume verpasst, weil er jeweils zu Hause gebraucht wurde. Wir versuchen auch in solchen Fällen dabei zu helfen, eine konstruktive Lösung zu finden.

Gibt es eigentlich eine Art von Prävention für seelische Krankheiten?

Anneliese App: Eine Prävention ist es, fachlichen Austausch mit Kommilitonen und Lehrenden zu suchen, für einen Ausgleich zum Studium zu sorgen, körperliche Bewegung und Entspannung zu praktizieren, Hobbies zu entwickeln und vertrauensvolle Freundschaften zu entwickeln. Auch unser Angebot ist Prävention. Je früher jemand Hilfe sucht, desto besser sind die Chancen, die Weichen umzustellen und zu vermeiden, dass ein Leiden chronisch wird.

 

Weitere Informationen:

Studentenwerk Berlin

Zum Hörfunkbeitrag "Seelische Krankheiten früh erkennen und vorbeugen - geht das?" auf rbb-Kulturradio

 

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