Kleiner Clown gegen die Angst

Wird ein Erwachsener alkoholabhängig, schadet er nicht nur sich, sondern seiner ganzen Familie. Vor allem Kinder leiden unter den Problemen und der Unsicherheit im Alltag. Ein heute trockener Alkoholiker erzählt.

Er wollte es allen zeigen. Und als Klaus Ruth mit 30 Jahren seinen Bäcker-Meister schaffte, fühlte er sich unerreichbar. Alles schien perfekt, er hatte einen guten Job, war glücklich verheiratet, die zwei Kinder waren sieben und neun Jahre alt. Dass sein Alkoholkonsum stetig zunahm, wollte er nicht hören. „Meine Frau hat mich immer wieder angesprochen, mir Broschüren des Blauen Kreuzes mitgebracht“, erinnert sich Ruth. Er wollte nichts hören, und so begann er, seine Frau zu belügen, die leeren Flaschen zu verstecken.

Als ihm Bier nicht mehr reichte, stieg er auf Jägermeister um. „Das ewige Lügen war schrecklich“, sagt er heute. Immer öfter kam es zu heftigen Auseinandersetzungen zwischen ihm und seiner Frau. „Geschlagen habe ich sie nie, aber die Situation war so schon grausam genug“, erinnert er sich. Die Kinder erlebten ihn entweder „mit der Flasche in der Hand“ oder schlafend auf dem Sofa. Die Tochter, heute 17 Jahre alt, versuchte nach außen hin alles normal aussehen zu lassen und verausgabte sich in der Schule. Auf dem Zeugnis standen nur Einsen.  Sein Sohn, heute 15 Jahre alt, wandelte sich immer mehr zu einem „Clown“ – in den dicksten Streitgesprächen zwischen Ruth und seiner Frau versuchte er, die Erwachsenen mit Witzen abzulenken, den Ärger auf sich zu ziehen. „Sie hatten Angst, dass ich noch mehr trinke“, sagt Ruth, „schon der Gedanke daran tut mir heute sehr weh.“

Als die Sucht immer schlimmer wurde, willigte er schließlich ein und begann einen Entzug mit anschließender Therapie. Die richtige Arbeit begann erst danach – mit sich, mit der Familie, den Alltag zu bestehen. Seit acht Jahren ist er nun trocken, führt eine eigene Selbsthilfegruppe und geht in Schulen, um dort seine Geschichte zu erzählen. Zum einen will er vor Alkohol warnen – „betrunken sein ist nicht cool“. Anderen Abhängigen will er ein gutes Beispiel sein. „Es gibt einen Weg aus der Sucht.“ Und obwohl es ihm heute gut geht, bleibt Ruth vorsichtig: „Eine absolute Sicherheit, trocken zu bleiben, gibt es nicht.“ Was er und seine Familie erlebten, ist kein Einzelfall.

Von den Auswirkungen elterlicher Suchterkrankungen sind in Deutschland 2,6 Millionen Kinder und Jugendliche betroffen, berichtet Henning Mielke, Vorsitzender von NACOA, einer Interessensvertretung für Kinder aus Suchtfamilien. Die Abhängigkeit eines Elternteils hat weitreichende Folgen: So sind schätzungsweise rund sechs Millionen Erwachsene in Deutschland als Kinder in Suchtfamilien aufgewachsen. Im Vergleich zu Kindern aus nicht süchtigen Familien ist das Risiko, selbst suchtkrank zu werden, bis zu sechsfach erhöht. Etwa ein Drittel dieser Kinder wird im Erwachsenenalter alkohol-, drogen- oder medikamentenabhängig. Ein Drittel entwickelt psychische oder soziale Störungen. Das dritte Drittel kommt – scheinbar – ohne sichtbare Schädigungen davon, doch viele von ihnen kämpfen mit Depressionen, Ängsten, psychosomatischen Störungen und nichtstofflichen Abhängigkeiten.

„Das Problembewusstsein in Deutschland ist bislang nur schwach ausgeprägt. In den Bereichen Schule, Kindergarten, Gesundheitswesen sowie bei den Jugendämtern, Suchthilfeeinrichtungen und im Kinderschutz herrscht weit verbreitete Unkenntnis über die Problematik der Kinder suchtkranker Eltern“, beklagt Mielke. „Es bedarf großer Anstrengungen, um auf Bundes-, Länder- und auf kommunaler Ebene ein Problembewusstsein zu schaffen.“ Bezeichnend sei, dass eine Sucht oft nicht als Krankheit angesehen werde. Generell werden Menschen mit psychischen Erkrankungen vielfach aus unserer Gesellschaft ausgegrenzt, erklären die Organisatoren des bundesweiten Aktionsbündnis Seelische Gesundheit, einer Partnerorganisation des Wissenschaftsjahres Gesundheistforschung. Das Stigma, das einer psychischen Erkrankung angelastet wird, erweise sich für die Betroffenen als schwerwiegende zusätzliche Belastung.

Meist leidet nicht nur der eigentlich Erkrankte, auch sein privates und berufliches Umfeld sieht sich mit unterschiedlichsten Problemen konfrontiert. Die Ausgrenzung und Diskriminierung psychisch Kranker erfolgt auf unterschiedlichen Ebenen: Im Rahmen zwischenmenschlicher Beziehungen, am Arbeitsplatz, in der Nachbarschaft, durch die Politik, private Versicherungsanbieter oder allein durch eine diskriminierende Darstellung seelisch Kranker in den Medien – das Wissenschaftsjahr Gesundheitsforschung will die Debatte darüber anstoßen.