„Eine Depression auch Depression nennen!“

Portrait Ulrich Hegerl Professor Ulrich Hegerl, Direktor der Klinik für Psychiatrie der Universität Leipzig und Vorstandsvorsitzender der Stiftung Deutsche Depressionshilfe im Interview über das skeptische Verhältnis der Deutschen zu Psychopharmaka.

Professor Hegerl, wie viele Menschen sind in Deutschland von einer Depression betroffen?
U
lrich Hegerl: Die Depression kann man zu den Volksleiden zählen. In Deutschland sind etwa fünf Prozent der Bevölkerung betroffen, das sind etwa vier Millionen Menschen.

Wie bestimmt man eigentlich, ab wann jemand eine Depression hat? Sind nicht Grenzen fließend zwischen “schlecht drauf” und einer Depression?
Ulrich Hegerl:
Während schlecht drauf sein zum Auf und Ab des täglichen und nicht immer leichten Lebens gehört, ist eine Depression eine ernsthafte, oft auch lebensbedrohliche Erkrankung, die in jedem Fall konsequent behandelt werden muss. Bei einer Depression ist die Fähigkeit, auch auf erfreuliche Dinge mit einem positiven Gefühl zu reagieren, abgeschaltet, es besteht tief sitzende Hoffnungslosigkeit, fast immer Schlafstörungen und Appetitstörungen sowie ein übertriebener Hang zu Schuldgefühlen und Grübelneigung. Häufig berichten Patienten auch über das „Gefühl der Gefühllosigkeit“, sie beschreiben die Unfähigkeit, selbst Trauer und andere Gefühle zu empfinden. Über diese und andere Krankheitszeichen ist eine Abgrenzung in den meisten Fällen gut möglich.

Tritt die Krankheit häufiger als früher auf?
Ulrich Hegerl:
Wenn man die Statistiken der Krankenkassen betrachtet, könnte man den Eindruck gewinnen. Psychische Erkrankungen sind häufiger ein Grund für Arbeitsunfähigkeit oder Frühberentung. Allerdings werden Depressionen heute besser erkannt. Und Betroffene trauen sich häufiger, über ihre Krankheit zu sprechen und Hilfe zu holen. Man traut sich, eine Depression auch Depression zu nennen.

Wie bitte? Hat man das früher nicht auch getan?
Ulrich Hegerl:
Vieles, was früher als chronischer Rückenschmerz oder Tinitus diagnostiziert wurde, war tatsächlich eine Depression. Oder nehmen Sie das Modewort “Burnout”. Das Wort signalisiert, jemand habe zu viel für etwas gebrannt, habe zu viel gearbeitet, und das sei die Ursache der Beschwerden. Oft handelt es sich jedoch schlicht um eine Depression, die ja immer mit Erschöpfung und dem Gefühl der Überforderung einhergeht und jeden treffen kann.

Schwierige Situationen hat doch jeder im Leben zu bewältigen. Warum wird bei dem einen eine Depression draus, bei dem anderen nicht?
Ulrich Hegerl:
Dieses Geheimnis möchten wir entschlüsseln. Eine Depression hat selten eine einzige Ursache. Meist führt ein Zusammenspiel verschiedener Faktoren zur Erkrankung. Die Depression wird sowohl von der körperlichen, genauer der neurobiologischen Seite her als auch von der psychischen und psychosozialen Seite her erklärt und auch behandelt. Wie bei den zwei Seiten einer Medaille ergänzen sich auch hier die beiden Betrachtungsweisen. Aus neurobiologischer Sicht spielen die Botenstoffe Serotonin und/oder Noradrenalin eine Rolle. Sie sind für die Übertragung von Impulsen zwischen den Nervenzellen verantwortlich und können aus der Balance geraten. Sie sind entweder in zu geringer Konzentration vorhanden oder aber die Übertragung funktioniert nicht richtig. Weiter sind die Stresshormone und die genetische Veranlagung als mögliche Faktoren zu nennen. Letztere hat Einfluss darauf, ob ein bestimmter Mensch dazu neigt, z.B. unter Stress depressiv zu erkranken. Neben der Hirnfunktion sind psychosoziale Faktoren, die andere Seite der Medaille, zu betrachten. Der Verlust des Arbeitsplatzes, die Trauer um eine nahestehende Person, chronische Überlastung aber auch scheinbar Erfreuliches, wie eine bestandene Prüfung oder Beförderung, kann eine Depression auslösen. So individuell wie die Symptome einer Depression, so unterschiedlich können auch die Auslöser sein. Bei vielen Patienten ist auch kein Auslöser identifizierbar.

Sind Betroffene der Krankheit ausgeliefert?
Ulrich Hegerl: Es gibt sehr gute Behandlungsmöglichkeiten. Wir arbeiten immer noch am sachlichen Umgang mit der Krankheit und auch daran, Fehlwissen abzubauen. Man kann Depressionen gut mit Medikamenten behandeln. Aber wir Deutschen sind Schlusslicht in Europa was die Bereitschaft angeht, Anti-Depressiva zu nehmen. Bei uns denken die meisten Menschen, Anti-Depressiva hätten schwere Nebenwirkungen oder würden in die Abhängigkeit führen. Das entspricht nicht den Tatsachen. Die zweite wichtige Säule der Behandlung ist die Psychotherapie. Bestimmte Behandlungsverfahren, insbesondere die sogenannte kognitive Verhaltenstherapie haben ihre Wirksamkeit ausreichend gut belegt. Ehrlich gesagt, finde ich die Zurückhaltung bei Antidepressiva verständlich.

Wenn ich diese Krankheit hätte, würde ich auch eher zum Psychologen oder zum Psychotherapeuten gehen, bevor ich eine Pille schlucke.
Ulrich Hegerl:
Ja, so wie Sie reagieren zunächst viele Menschen.

Woran liegt das?
Ulrich Hegerl: An der Romantik, die in Deutschland eine große Rolle spielt?! In Deutschland sind Naturheilmittel gut, Chemie ist böse. Das sage ich jetzt bewusst überspitzt. Ich kann nur immer wieder betonen: Depressionen sind eine Krankheit wie andere Krankheiten auch. Und dabei möchte ich ausdrücklich betonen, dass die Psychotherapie bei der Behandlung von Depressionen auch sehr wichtig ist. Es gibt kognitive Verhaltenstherapien, die den Betroffenen im Hier und Jetzt helfen, die das Rollenverhalten verändern können, in den Menschen das Nein-Sagen lernen, in denen man sich prüfen und feststellen kann, ob man sich im Leben immer wieder in Situationen manövriert, in denen man überfordert ist.

Unser Thema ist die Gesundheitsforschung. Können Sie an einem prägnanten Beispiel deutlich machen, was Forschung für Betroffene leisten kann?
Ulrich Hegerl: Wir starten zur Zeit ein größeres europäisches Projekt, in dem wir die Rolle des internetbasierten Selbstmanagements untersuchen. Für die große Zahl der Patienten mit leichteren Depressionen, die bisher keine spezifische Behandlung erhalten oder lange auf einen Psychotherapieplatz warten müssen, kann ein in Modulen aufgebautes interaktives Selbstmanagementprogramm, das unter Anleitung z. B. des Hausarztes durchgearbeitet wird, eine wichtige Hilfe sein. So ein Programm muss aber hinsichtlich seiner Wirkung sorgfältig beforscht werden.

 

Weitere Informationen

Selbsttest Stiftung Deutsche Depressionshilfe 

 

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