Zum Wissenschaftsjahr 2018
Forschende tragen eine schwere Beweislast

Forschende tragen eine schwere Beweislast

Ein Expertenbeitrag von Dr. Martin Wagner

Forschende tragen eine schwere Beweislast

Ein Expertenbeitrag von Dr. Martin Wagner, Norwegian University of Science and Technology in Trondheim, Norwegen

Wir leben im Plastikzeitalter. Plastik ist so erfolgreich wie kein anderes Material. Es ist uns derart nah, dass wir es oft gar nicht mehr wahrnehmen. Unser Leben beginnt genauso mit Plastik (Windeln, Schnuller) wie später jeder Tag (Wecker, Zahnbürste). Plastik ist alternativlos, wenn es um Infrastruktur, Kommunikation, Transport und Medizin geht. Anders gesagt: Wir sind abhängig von Plastik.

Im Jahr 2016 allein wurden weltweit 322 Millionen Tonnen produziert, so viel wie das Gewicht von 50 Millionen Elefanten. Der Erfolg hat zwei einfache Gründe: Plastik ist extrem vielseitig und es ist extrem billig. Allerdings müssen all die Kunststoffe nach Benutzung irgendwo hin. Jüngste Studien schätzen, dass wir weltweit bisher insgesamt mehr als sechs Milliarden Tonnen Plastikabfall produziert haben, von denen der Hauptteil, nämlich 79 Prozent, in Mülldeponien oder in der Umwelt entsorgt wurde.

Und hier werden die herausragenden Eigenschaften zum Problem: Die Langlebigkeit von Plastik führt dazu, dass es kaum abbaubar ist. Das geringe Gewicht erleichtert die unkontrollierte Ausbreitung in der Umwelt. Der geringe Preis macht die Wiederverwendung von Plastik unattraktiv. Das sind die Gründe, die zur Ansammlung von Plastikmüll in der Umwelt führen.

Dr. Martin Wagner ist Biologe und seit August 2017 Professor für Ökotoxikologie an der Norwegian University of Science and Technology in Trondheim, Norwegen. Bereits vorher an der Goethe-Universität hatte er zahlreiche Projekte zu Mikroplastik initiiert und geleitet, darunter die BMBF-geförderten Projekte MiWa, PlastX und seit September 2017 PLAWES.

Plastik ist inzwischen überall: In Seen und Flüssen direkt vor unserer Haustür und natürlich in allen Meeren und Ozeanen. Auf Norderney genauso wie auf abgelegenen, unbewohnten Inseln und weiter polwärts in Arktis und Antarktis. Und natürlich in den Meeresstrudeln, die eher einer Plastiksuppe als „Plastikkontinenten“ gleichen. Die letzte Ruhestätte findet unser Plastik schließlich in der Tiefsee. So werden die Meere zur großen Müllhalde.

Und das bleibt nicht ohne Folgen: Über fünfhundert Tierarten kommen in engen Kontakt mit unserem Müll. Weggeworfene Fischernetze fischen jahrzehntelang weiter. Schildkröten, Robben, Wale: Sie alle verfangen sich in Plastik oder fressen es, da sie es mit Nahrung verwechseln. Seevögel verfüttern plastikangereicherte Nahrung an ihre Jungtiere. So wird unser Müll an die nächste Generation vererbt. Auch Kleinstlebewesen fressen Plastik, ein Teil verbleibt über Wochen im Kreislaufsystem von Muscheln. Werden sie ihrerseits Beute größerer Tiere, verbreitet sich unser Plastikmüll nicht nur in der Umwelt, sondern auch in der Nahrungskette.

Ob die Allgegenwart von Plastik negative Auswirkungen auf die Umwelt hat, lässt sich bisher nicht abschließend sagen. Die Hinweise aus Feldstudien sind starke Indizien, aber noch keine eindeutigen Beweise. Diese kann man nur unter kontrollierten Bedingungen im Labor erbringen. Hier stört Mikroplastik die Nahrungsaufnahme und den Energiehaushalt von Wattwürmern, die Fortpflanzung von Austern und das Immunsystem von Miesmuscheln. Das allerdings nur bei sehr hohen Plastikkonzentrationen, die kaum in der Umwelt gefunden werden.

Hier setzte kürzlich eine Studie der schwedischen Universität Uppsala mit Fischen an. In sehr geringen Konzentrationen, die auch in der Umwelt angetroffen werden, störte Mikroplastik die Entwicklung und das Verhalten von Barschen, so berichteten schwedische Biologinnen und Biologen. Viele Forscherinnen und Forscher waren überzeugt: Diese Beweise reichen aus, um Maßnahmen gegen die Plastikvermüllung wissenschaftlich abzustützen. Leider währte die Euphorie nicht lange, denn Kolleginnen und Kollegen machten auf Unstimmigkeiten bei den Experimenten aufmerksam. Die Studienautoren konnten diese nicht ausräumen, so dass die Studie letztendlich zurückgezogen wurde.

Dieser Vorfall zeigt, wie groß der Druck auf Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler ist, die negativen Auswirkungen unseres Mülls auf die Umwelt zu belegen. Der Fall dieser Studie zeigt aber auch, dass Wissenschaft einer kritischen (Selbst)prüfung standhalten muss, die Unstimmigkeiten letztlich zu Tage fördert und korrigiert.

Wo stehen wir also bei der Frage, ob Plastik tatsächlich die Umwelt schädigt? Nicht ganz am Anfang. Wir wissen, dass Plastik in hohen Konzentrationen schädlich für Tiere ist. Wir wissen aber noch nicht um die Langzeitfolgen. Wie niedrige Mengen von Plastik auf ganze Ökosysteme wirken, lässt sich nur in aufwändigen Langzeitstudien bestimmen. Haben wir die Zeit dafür? Wir haben sie nicht. Es wird Jahrzehnte brauchen, bis wir die Auswirkungen von Plastik auf die Umwelt und nicht zuletzt unsere eigene Gesundheit umfassend verstehen. Diese Zeit sollten wir nicht verschwenden, denn es gibt bereits jetzt gute Gründe zu handeln: Die Produktionsmengen steigen exponentiell und unser Plastikmüll hat den Planeten bis in den letzten Winkel durchdrungen. Das Problem wird nicht kleiner.

Wie so oft gibt es allerdings für komplexe Probleme keine einfachen Lösungen. Plastik ist so eng mit unserem Wohlstand verwoben, dass wir unser bisheriges Verhältnis zu Kunststoffen grundlegend ändern müssen. Da insbesondere die einmalige Benutzung von Plastik ein Problem darstellt, müssen Hersteller, Händler und Verbraucher dessen Einsatz konsequent minimieren. Gemeinsam müssen wir die lineare Logik von Produzieren – Verwenden – Wegwerfen unterbrechen. Und stattdessen im Kreis denken und handeln: Kunststoffe und andere Rohstoffe müssen möglichst verlustfrei zur Produktion neuer Waren wiederverwendet werden. Diese sogenannte Kreislaufwirtschaft verhindert, dass wertvolle Ressourcen in die Umwelt gelangen. Das ist am Ende gut für die Wirtschaft und für die Natur.

Die hier veröffentlichten Inhalte und Meinungen der Autoren entsprechen nicht notwendigerweise der Meinung des Wissenschaftsjahres 2016*17 – Meere und Ozeane.

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