Zum Wissenschaftsjahr 2018
Die Schiffskatastrophe vor Spiekeroog im Jahr 1854 und die Anfänge der Seenotrettung in Deutschland

Die Schiffskatastrophe vor Spiekeroog im Jahr 1854 und die Anfänge der Seenotrettung in Deutschland

Ein Expertenbeitrag von Hans-Walter Keweloh

Die Schiffskatastrophe vor Spiekeroog im Jahr 1854 und die Anfänge der Seenotrettung in Deutschland

Ein Expertenbeitrag von Hans-Walter Keweloh, Deutsches Schifffahrtsmuseum

Immer wieder berichten die Medien aktuell von Geflüchteten, die in der Hoffnung auf ein sicheres, besseres Leben auf dem Seeweg über das Mittelmeer nach Europa kommen. Regelmäßig erfahren wir von Schiffskatastrophen, bei denen Kinder, Frauen und Männer sterben oder als Schiffbrüchige von Helfern gerettet werden. Immer dann fragt die Gesellschaft, wie solche Katastrophen vermieden werden können.

Vergleichbare Ereignisse und Fragen brachte im 19. Jahrhundert die Auswanderungswelle aus Europa nach Amerika mit sich. Hunderttausende brachen damals in der Hoffnung auf ein besseres Dasein mit Auswandererschiffen von den Küsten der Alten in die Neue Welt auf. Auch ihnen drohte auf der Reise, angesichts der Gewalt des Meeres, ein ungewisses Schicksal.

Der Untergang der Bark JOHANNE im November 1854

Besondere Aufmerksamkeit fand der Untergang des Segelschiffs JOHANNE auf den Sänden vor der Insel Spiekeroog im November 1854.

Voller Hoffnung waren am 2. November 216 Auswanderer - 94 Männer, 72 Frauen, 37 Kinder unter 10 zehn Jahren und 13 Säuglinge – auf dem neu gebauten Segler von der Unterweser nach Amerika aufgebrochen. Die Passagiere und die fünfzehnköpfige Schiffsbesatzung gerieten bereits kurz nach dem Auslaufen in einen schweren Sturm, der sich schließlich zum Orkan entwickelte. Nachdem am 4. November ein Matrose in das tosende Meer gerissen worden war, strandete das Schiff zwei Tage später vor der Insel Spiekeroog. Hilflos mussten die Inselbewohnerinnen und -bewohner zusehen, wie Tote an Land gespült wurden und Überlebende um Hilfe riefen. Alle Überlebenden fanden schließlich vorübergehend freundliche Aufnahme auf der Insel.

Hans-Walter Keweloh studierte Volkskunde und Geschichte und war seit 1979 als Volkskundler und Historiker am Deutschen Schifffahrtsmuseum in Bremerhaven tätig, im Zeitraum von 2000 bis 2005 als Direktor des Museums. Bis 2006 war er im Vorstand des Museumsverbandes für Niedersachsen und Bremen tätig und ist seit seinem Ruhestand Mitglied in verschiedenen Museumsbeiräten in Niedersachsen.

Zwei Tage nach der Katastrophe verfasste ein Journalist einen Bericht über die Schiffstragödie, die 77 Tote gefordert hatte, darunter 18 Kinder und sieben Säuglinge. Der Artikel erschien am 16. November, zusammen mit einem Spendenaufruf in der Deutschen Auswandererzeitschrift in Bremen. Dieser und weitere Artikel fanden nicht nur an der Küste, sondern auch im Binnenland großen Zuspruch. Vor allem wurden Stimmen laut, dass solche Unglücke mit der stetig wachsenden Zahl Auswanderwilligen zunehmen würden. Es wurde die Einrichtung eines allgemeinen Rettungswesens gefordert, um Küstenbewohner darauf vorzubereiten und in die Lage zu versetzen, Schiffbrüchigen zur Hilfe zu kommen.

Die Strandung von 76 Schiffen und 118 Tote in den folgenden sieben Jahren waren für eine breite Öffentlichkeit nur wenig spektakulär. Erst die Strandung der englischen Brigg ALLIANCE im September 1860 auf dem Borkumriff und der Tod von fünf Besatzungsmitgliedern, bei dem die Inselbewohner tatenlos zusahen, weckte erneut die Emotionen und führte zu neuer Empörung in der Presse. Zeitungen beklagten die mangelnde staatliche Initiative. Am 30. September schrieb die „Weser-Zeitung“ in Bremen: „Ob von der hannoverschen Regierung an der tatsächlich gefährdetsten Stelle der deutschen Nordseeküste nicht bessere Maßregeln schon seit langem getroffen sein müssten, wollen wir denen zu beurteilen überlassen, die in der Sache nicht wie wir Laien sind. Aber welch ein schaudererregender Blick fällt in die wüste Barbarei, die als ein fauler Fleck in unser gesittetes norddeutsches Leben hineinbrennt.“

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Gleichzeitig forderten Fachleute wie der Vegesacker Navigationsschullehrer Adolph Bermpohl und der hannoversche Oberzollinspektor Georg Breusing die Einrichtung von Rettungsstationen und die Bereitstellung von Rettungsmitteln an der Küste. Schließlich wurde am 2. März 1861 in Emden nach englischem Vorbild der „Verein zur Rettung Schiffbrüchiger an den ostfriesischen Küsten“ gegründet. 1861 folgten Rettungsvereine in Hamburg und 1863 in Bremen sowie schließlich in Cuxhaven, Kiel, Lübeck, Rostock, Stralsund, Stettin, Stolpmünde und Danzig. 1864 waren an der Nordseeküste bzw. auf den vorgelagerten Inseln zwölf Rettungsstationen vorhanden.

Die örtlichen Rettungsvereine schlossen sich schließlich 1865 in Kiel zur Deutschen Gesellschaft zur Rettung Schiffbrüchiger (DGzRS) zusammen. Sie nahm als nationales Seenotrettungswerk, mit Sitz in Bremen, ihre Arbeit auf.

Die Organisation entwickelte sich rasant. Bereits zehn Jahre nach ihrer Gründung unterhielt die Gesellschaft zur Rettung Schiffbrüchiger 91 Rettungsstationen an Nord- und Ostseeküste. Zum 25-jährigen Bestehen 1890 war deren Zahl auf 111 angewachsen. Rund 1000 Freiwillige standen bereit, in Seenot geratenen Menschen zur Hilfe zu kommen, und 48.979 Mitglieder im ganzen Deutschen Reich unterstützten die Arbeit. Heute tun 180 Festangestellte und 800 Freiwillige auf den Rettungsstationen Dienst auf zwanzig Seenotkreuzern und vierzig Seenotrettungsbooten an den deutschen Küsten.

Der Untergang der JOHANNE war der emotionale Auslöser für die gesellschaftliche Wahrnehmung von Schiffskatastrophen und derer humanitärer Problematik. Die Katastrophe war Wegbereiter für die Gründung des Seenotrettungswesens in Deutschland.

Die hier veröffentlichten Inhalte und Meinungen der Autoren entsprechen nicht notwendigerweise der Meinung des Wissenschaftsjahres 2016*17 – Meere und Ozeane.

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