Wissenschaftsjahr 2007 - 01.08. - 07.08.2007

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01.08. - 07.08.2007

Im Blickpunkt

Historiker Raul Hilberg gestorben

Raul Hilberg, der bedeutendste Erforscher des Holocaust, ist tot. Die Feuilletons gedenken des Historikers. In der Süddeutschen Zeitung würdigt ihn Gustav Seibt als Begründer einer ganzen Forschungsrichtung: "Raul Hilberg, der Samstag im Alter von 81 Jahren verstorben ist, war ein solcher wissenschaftlicher Gründer. Er ist der Vater der Holocaustforschung geworden, an der sich heute ungezählte Wissenschaftler auf der ganzen Welt beteiligen. Nur dass Hilberg den aus der antiken religiösen Sprache entnommenen Begriff 'Holocaust' ebenso wenig schätzte wie den hebräischen Ausdruck 'Shoah'. Er sprach, so einfach wie nüchtern, von der 'Vernichtung der europäischen Juden'.

"Spät erst, dann aber doch, wurde der Rang seines Werks in Deutschland erkannt, stellt in der FAZ Lorenz Jäger fest: "Raul Hilberg genoss in Deutschland einen späten, aber umso größeren Ruhm, der oftmals, auf der Seite der Jüngeren, eine persönliche Verehrung des großen Gelehrten einschloss. Kein besserer Beleg dafür als die Tatsache, dass er, amerikanischer Staatsbürger seit langem, in diesem Frühjahr auf der vom Magazin 'Cicero' erstellten Liste der fünfhundert einflussreichsten deutschsprachigen Intellektuellen einen respektablen Platz erlangte."

In der FR schreibt Arno Widmann: "Hilberg ging es nicht ums Verurteilen - das verstand sich von selbst. Hilberg wollte begreifen. Er wollte die Untaten verstehen. Er wollte wissen, wie sie funktionierten. Seines Lehrers Franz Neumann 'Behemoth', dessen - wenn man es so paradox formulieren darf - analytischer Blick aufs Ganze hatte Hilberg stark geprägt. Aber Hilberg interessierte sich nicht nur für die Tat, sondern auch für die Täter."

Im Tagesspiegel erinnert sich Hilbergs Lektor Walter Pehle: "Als Lektor einer Buchreihe über die Zeit des Nationalsozialismus hatte ich mich mit der Publikation von Büchern seiner Lehrer in New York vorbereitet: mit Ernest Fraenkels 'Doppelstaat' und Franz Neumanns 'Behemoth'. Das Wagnis, einen Brief nach Vermont zu schreiben, wurde belohnt: 1990 erschien in der Schwarzen Reihe des Fischer Verlags die überarbeitete Fassung der 1982 bei Olle & Wolter publizierten deutschen Erstausgabe."

Weitere Nachrufe in der Welt und in der Berliner Zeitung.

Süddeutsche Zeitung, 7.8.

Themen der Woche

Ausstellung zu Antisemitismus im Auswärtigen Amt

Sven Felix Kellerhoff hat sich für die Welt mit dem Historiker Wolfgang Benz über die Ausstellung "Antisemitismus? Antizionismus? Israelkritik?" unterhalten, die das von Benz geleitete Zentrum für Antisemitismusforschung und die Gedenkstätte Yad Vashem in Jerusalem entworfen haben - und die nun im Auswärtigen Amt gezeigt wird. Es geht unter anderem um die längst als Fälschung erwiesenen "Protokolle der Weisen von Zion": "Die islamische Welt, soweit sie sich in Feindschaft zu Israel befindet, übernimmt Rezepte aus der Giftküche des europäischen Nationalismus im 19. Jahrhundert. Rassismus ist ursprünglich dem Islam unendlich fremd, im Gegensatz zu den europäischen Kulturen. Das ist kein Ruhmesblatt für uns. Mit den "Protokollen" wird im islamischen Raum ein Feindbild adoptiert und passend gemacht."

Historiker Peter Steinbach über Widerstandsforschung

Peter Steinbach, Leiter der Gedenkstätte deutscher Widerstand, äußert sich im Interview mit dem Tagesspiegel noch einmal zur Stauffenberg-Verfilmung, die er ablehnt, weil die Persönlichkeit Stauffenbergs zu komplex für Hollywood sei - er spricht aber auch über die Veränderungen der Widerstandsforschung: "Ich bin für ein integrales Konzept von Widerstandsforschung. Daher lehne ich es auch kategorisch ab, mit einer starren Definition von Widerstand an die vergangene Realität heranzugehen. In den 90er Jahren war man sich darüber auch schon einmal einig gewesen; heute sind manche konservative Historiker, scheint es, hinter diese Erkenntnis zurückgefallen."

Das Unbewusste in der Wissenschaft

In der Tagesspiegel-Serie zum Jahr der Geisteswissenschaften schreibt Christina von Braun über das Unbewusste in der Wissenschaft. Die Strategie der Wissenschaften sei es lange gewesen, so Braun, das Unbewusste zu feminisieren und so von der Wissenschaft fern zu halten, in der es doch spätestens seit Freud seinen Platz haben sollte: "Wenn aber die Wissenschaft dem Unbewussten so viel verdankt - warum schreckt sie dann davor zurück? Weil das Unbewusste dazu führt, dass man nicht mehr "Herr im eigenen Haus" ist, und weil das Unbewusste nicht den "logischen Denkgesetzen" folgt: Laut Freud stößt es sich weder am Widerspruch, noch nimmt es "Rücksicht auf die Realität", sondern ersetzt die "äußere Realität" durch die psychische. Nicht einmal für die Gesetze der Chronologie habe das Unbewusste ein Gespür: "Die Vorgänge des Systems Ubw sind zeitlos, das heißt, sie sind nicht zeitlich geordnet, werden durch die verlaufende Zeit nicht abgeändert, haben überhaupt keine Beziehung zur Zeit." Genügend Gründe für die Wissenschaft, sich das Unbewusste vom Leib zu halten."

Auszug aus Fritz Sterns Autobiografie

Die Süddeutsche druckt einen Auszug aus den Memoiren des Historikers Fritz Stern, in denen es auch um Deutschland geht - und die Lektion, die es aus der Geschicht gelernt hat. Stern erinnert sich an ein Gespräch mit der unbeirrbar deutschenfeindlichen Margaret Thatcher: "'Die einzigen, denen man vertrauen kann, sind die Holländer.' Ich sagte vorsichtig: 'Frau Premierminister, das könnte nicht ganz ausreichen.' Nach einigen Drinks, die sie selbst gemixt hatte, und nachdem sie uns Exemplare einiger unserer Bücher gezeigt hatte, die sie gelesen habe, verabschiedeten wir uns, und auf dem Weg zu unseren Wagen sagte ich zu Tim Garton Ash: 'Das einzige Wort, das sie nicht benutzt hat, war Hunne!'"

Süddeutsche Zeitung, 6.8.

Mystik aus der Bibliothek von Pico della Mirandola

Elisabeth Binder informiert im Tagesspiegel über ein außergewöhnliches Editionsprojekt des Judaistik-Instituts der Freien Universität Berlin und des Istituto Nazionale di Studi sul Rinascimento in Florenz. Dort werden gerade Bände der Literatur der Mystik gesichtet, übersetzt und herausgegeben, die einst der Humanist Pico della Mirandola in seiner Bibliothek hatte: "Einer berühmten Genealogie zufolge, reichen diese kabbalistischen Bücher bis auf Esra zurück und gehen nicht nur den Texten des Evangeliums, sondern auch den Schriften Platons voran, so dass vor diesem Hintergrund ein Band entsteht, das die Kabbalisten mit den Mysterien des Moses verbindet, die auf diese Weise die göttliche Offenbarung glaubwürdig bezeugen. Für Pico stellte das Hebräische einen Schlüssel zur Schöpfung dar, und mit seinem ehrgeizigen Projekt hat er eine neue Saison der vormodernen Suche nach Wahrheit eröffnet. Seine Schriften gehören zwar zu den faszinierendsten Dokumenten der italienischen Renaissance, erstaunlicherweise aber auch zu den bislang am wenigsten studierten."

Der Germanist als rastloser Kommunikator: Ulrich Müller

Reinhard Olt porträtiert in der FAZ den Germanisten Ulrich Müller, der in Bayreuth jährlich ein Symposion organisiert - diesmal ging es um das (Musik-) Theater der Romantik. Aber auch sonst ist Müller nicht faul: "Die Zahl seiner Publikationen geht in die Hunderte; dass das Nibelungenlied - wie andere mittelalterliche Genres - heute im Hildebrandston (von Eberhard Kummer gesungen) auf Video und CD konserviert ist, geht auf ihn zurück. Angesichts einer von Zeitgenossen neidisch beäugten Schaffenskraft, die den rastlosen Kommunikator an die Spitze angesehener wissenschaftlicher Unternehmungen und Gesellschaften rund um den Globus trug, fragt man sich, wann der Vater und Großvater eigentlich, ja ob der stets Hellwache überhaupt schläft."

FAZ, 1.8.

60. Geburtstag des Germanisten Helmut Kiesel

Richard Kämmerlings gratuliert in der FAZ dem in Heidelberg lehrenden Germanisten Helmut Kiesel zum 60. Geburtstag: "Er habilitierte sich über das Spätwerk Alfred Döblins, arbeitete zu Erich Kästner und Thomas Mann, Max Weber und Ernst Jünger (dessen Briefwechsel mit Carl Schmitt er herausgab), über Kafka, Brecht, Benn, Botho Strauß und Peter Handke und schrieb immer wieder, auch für diese Zeitung, über Gegenwartsliteratur. In diesem Herbst erscheint im Siedler-Verlag seine Monografie über Ernst Jünger. Es gibt wenige Germanisten, die sich so furchtlos in das dichte Gestrüpp zwischen ästhetischer und politischer Moderne wagen und darin mit klarem Stil solch breite, öffentlich begehbare Schneisen schlagen können."

FAZ, 1.8.

Bücher und Rezensionen

Großartig findet Johan Schloemann in der Süddeutschen Zeitung "Das entfesselte Wort", die Studie des Germanisten Heinz Schlaffer über Friedrich Nietzsche – und das, obwohl er die heftige Abneigung des Autors gegenüber seinem Gegenstand fast unbegreiflich findet: "Mögen die Historiker der bundesrepublikanischen Germanistik klären, ob hier ein ästhetischer Abscheu zum politischen geronnen ist oder umgekehrt; Heinz Schlaffers problematische Reflexe aber ändern nichts daran, dass man viel mehr von der jargonfreien Germanistik bräuchte, wie er sie betreibt. Das Beste aber und wohl zugleich für den Autor dieses Buches Schlimmste ist: Nach der Lektüre von 'Das entfesselte Wort' hat man grenzenlose Lust, wieder und weiter Nietzsche zu lesen."

SZ, 4.8.

Nicht ganz vorbehaltlos, aber insgesamt doch sehr positiv bespricht Gerhard R. Koch in der FAZ Richard C. Beachams Darstellung von Leben und Werk des Künstlers und großen Theatervisionärs Adolphe Appia, dessen Theorien bis heute nachwirken. Erstaunlich wenig interessiere sich Beacham für die deutsche Rezeption, dennoch gelte: "Beachams kulturgeschichtliches Panorama ist reich gestuft, zumal in den Hinweisen auf Parallel- und Folge-Phänomene, etwa bei Artaud oder Meyerhold, der konstruktivistischen "Treppe" Leopold Jessners, aber auch in Amerika: Beim Living-, La Mama- oder Bread and Puppet Theatre konnte man im antipsychologischen und -realistischen Impuls durchaus Ableger Appias erkennen. (...) Kurios immerhin mutet an, dass Beacham kaum Querverweise zu Foto und Film liefert. So hermetisch kann Appia kaum gewesen sein. Trotzdem: Das Buch ist eine Wohltat."

FAZ, 3.8.

Konferenzen und Tagungen

Auf der Geisteswissenschaften-Seite der FAZ berichtet Helmut Mayer von einer Tagung am Potsdamer Einstein-Forum, in der über die Metapher diskutiert wurde, und die Probleme, die die Philosophie immer schon mit ihr hat: "'Die ordentlich gearbeiteten inneren Bereiche der Wissenschaft', schrieb der amerikanische Philosoph W.V.O. Quine einmal mit einem hübschen Wortspiel, 'sind ein freier Raum inmitten tropischen Dschungels, geschaffen durch das Beiseiteräumen von Tropen.' Bündiger kann man kaum formulieren, was eine lange philosophische Tradition den Tropen, den figürlichen Ausdrucksweisen also, vorgehalten hat: Verführerische Hypertrophie zu sein, die die eigentliche und ohne rhetorische Drapierungen zu erreichende Erkenntnis gefährdet, deren Signum der klar konturierte, terminologisch fixierte Begriff ist."

FAZ, 1.8.


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