Wissenschaftsjahr 2007 - 24.10. - 30.10.2007

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24.10. - 30.10.2007

Im Blickpunkt

Das Massaker von Rechnitz und die Historiker

Die von David Litchfields umstrittenem Artikel in der FAZ ausgelöste Debatte über das Massaker von Rechnitz, bei dem 180 jüdische Zwangsarbeiter ermordet wurden, hat in der letzten Woche weitere Zeithistoriker auf den Plan gerufen - und weitet sich zur Diskussion über die Historiografie nationalsozialistischer Verbrechen. In der NZZ fasst Paul Jandl die Reaktionen österreichischer Historiker zusammen: "Während den Historikern der schon bisher gut erforschte Fall nicht neu ist, haben sich die Zweifel an der Seriosität des Artikels zum Unisono gesteigert. Wenn jemand seine Quellen so wenig offenlege wie Litchfield, sei höchste Vorsicht geboten, sagt der Salzburger Zeitgeschichtler Ernst Hanisch."

In der Süddeutschen findet es der Zeithistoriker Stefan Klemp nicht sonderlich interessant, ob und wie nun die Thyssen-Gräfin Batthyany beteiligt war - für den Historiker sei ganz anderes bedeutsam: "Viel interessanter aber als die mögliche Beteiligung einer deutschen Erbin ist die Frage, was aus den Tätern wurde. [...] SS-Sturmscharführer Franz Podezin, der mutmaßliche Haupttäter beim 'Massaker von Rechnitz', arbeitete nach 1945 nicht nur als Agent der Westalliierten in der DDR. Westdeutsche Strafverfolgungsbehörden ermöglichten dem SS-Führer auch die Flucht aus Deutschland. Der Fall zeigt vor allem, dass die Geschichte des Bundeskriminalamts dringend aufgearbeitet werden muss."

Einen anderen Aspekt betont in der taz Robert Misik: "Das Bedürfnis, einen grotesk übertriebenen Anteil der Schuld auf eine deutsche Großbürgerstochter zu schieben, die sich in ungarisches Grafengeschlecht hochgeheiratet hat, ist unter Österreichs antifaschistischen Historikern nicht extrem stark ausgeprägt - schließlich war es ja die Raison d'etre der Nachkriegsrepublik, dass 'die Deutschen' schuld waren."

SZ, 25.10.

Zeitgenossenschaft der Kunst

Das ZKM (Zentrum für Kunst und Medientechnologie) in Karlsruhe feiert seinen zehnten Geburtstag und veranstaltete bei der Gelegenheit eine Tagung zum Thema "Where is Art Contemporary?" Die Feuilletons waren in großer Zahl vor Ort. Für die FAZ berichtet Jonas Beyer: "Das Forschungsprojekt 'Global Art and Museum' macht, was man als derartiges Projekt machen muss: Es vermeidet die "eurozentrische Sicht". Man lud Museumsleute aus aller Welt ein, um die Frage nach dem Ort oder besser den Orten moderner Kunst in einer globalisierten Welt zu beantworten. Zentral sei dabei die Einsicht, dass Kunst und Ort sich wechselseitig durchdringen, erklärte Hans Belting in seinem Referat; darüber ließ sich gut diskutieren, allerdings ohne dass man sich verständigte, was denn nun genau unter 'globaler Kunst' zu verstehen sei, wenn sie gleichzeitig lokal durchdrungen wird."

In der SZ informiert Manfred Schwarz über die Tagung: "Nachdem Spiritus Rector Hans Belting in seinem splendiden Eröffnungsvortrag das Terrain zwischen dem Globalen und dem Lokalen vermessen hatte - vom Esperanto des boomenden Marktes bis zum harten, sperrigen Hinterhof-Akzent, der in den Entwicklungsländern des Kunstbetriebes gesprochen wird, spannte er lässig den Bogen -, boten die Gastredner gleichsam eine Reise um die Welt in zwei Tagen. In rund zwei Dutzend Fallbeispielen berichteten sie aus ihrem Alltag als Museumsleiter und -kuratoren in Afrika, Asien oder Süd-Amerika."

Maria Becker bleibt in der NZZ eher skeptisch, was die Erträge der Diskussion angeht: "Der Eindruck der Konferenz zur Lage der Museen in der globalen Welt hinterließ trotz interessanten Projekten und aufregender neuer Kunst eine gewisse Ratlosigkeit angesichts der künftigen Entwicklung."

FAZ, 26.10.

SZ, 24.10.

Themen der Woche

Ideengeschichte des Liberalismus

In der NZZ gibt Jan-Werner Müller eine Einführung in die Ideengeschichte des amerikanischen Liberalismus, deren Kenntnis auch für die politische Diskussion von Vorteil sein könne: "Klarheit über die eigene Vergangenheit (und nicht zuletzt die Wort- und Begriffsgeschichte) wird denn von vielen Demokraten auch immer wieder als Vorbedingung für eine nachhaltige Renaissance des amerikanischen Liberalismus gefordert. Der Soziologe Paul Starr hat in einem vielbeachteten Buch über die 'wahre Kraft des Liberalismus' ('Freedom's Power: The True Force of Liberalism', Basic Books, 2007) darauf hingewiesen, dass zwischen dem 'klassischen Konstitutionalismus-Liberalismus' eines John Locke und dem 'modernen demokratischen Liberalismus' des zwanzigsten Jahrhunderts philosophische Kontinuität bestehe."

Heilig durch Karbol

Wie man sich als Historiker beim Volk so richtig unbeliebt machen kann, demonstriert derzeit Sergio Luzzatto. Er hat in den Vatikan-Archiven Briefe entdeckt, die belegen, dass der Volksheilige Padre Pio bei seinen Stigmatisierungen womöglich nachgeholfen hat. An der Beliebtheit Padre Pios, meint Franz Haas in der NZZ, wird sich aber kaum etwas ändern, "nachdem Luzzatto aufgedeckt hat, dass der Pater bei einem lokalen Apotheker gro¤e Mengen von Karbolsäure kaufte, vielleicht um durch Verätzung der Hände dem Wunder ein wenig nachzuhelfen. Der Apotheker wandte sich vertraulich an den örtlichen Bischof; der schrieb 1920 an den entsetzten Papst Benedikt XV., doch die Briefe schwiegen bis vor kurzem in den Archiven des Heiligen Offiziums."

Sechzigster Geburtstag des Historikers Frederick Cooper

In der FAZ gratuliert Andreas Eckert dem Historiker Frederick Cooper zum sechzigsten Geburtstag, der vor allem als Historiker des Kolonialismus bekannt geworden ist: "Die originelle Reflexion von Begriffen und Theorien, verknüpft mit intensiven Quellenstudien, ist charakteristisch für das umfangreiche Oeuvre von Cooper, ohne Zweifel einem der produktivsten Historiker seiner Generation. Begonnen hat er seine Karriere mit innovativen Studien zur Sklaverei und dem komplexen, nie geradlinigen  bergang von unfreier zu freier Arbeit in Afrika. [...] In seinem vor elf Jahren publizierten Opus Magnum 'Decolonization and African Society' betonte Cooper die große Bedeutung von Arbeitskämpfen, militanten Arbeiterbewegungen und der Bildung von Gewerkschaften für das Ende der Kolonialherrschaft südlich der Sahara."

FAZ, 27.10.

Bücher und Rezensionen

Außerordentlich lehrreich findet Lucian Hölscher in der SZ Helmut Zanders große zweibändige Geschichte der "Anthroposophie in Deutschland" - um eine wissenschaftliche Pionierleistung handle es sich überdies: "Das Werk ersetzt und fasst eine ganze Bibliothek verstreut vorliegender Literatur zusammen. Gleichwohl bewahrt es in seiner weit ausgreifenden Gründlichkeit die Haltung des Kartographen, der die Dinge lieber an ihren rechten Platz rücken, als sie abschließend beschreiben und bewerten will: Geschichte der Theosophie und intellektuelle Biographie Rudolf Steiners, Religionssystem und Wissenschaftsverständnis, Freimaurerei und politisches Engagement, Eurythmie und anthroposophische Architektur, Waldorfpädagogik, Medizin und Landwirtschaft - man liest ein solches Werk am besten passagenweise."

SZ, 25.10.

Stefan Rebenich hat zwei Bücher des Kirchenhistorikers Christoph Markschies gelesen, die sich mit der Institutionen-Frühgeschichte des Christentums befassen und stellt in der NZZ fest: "Markschies erbringt den Nachweis, dass die Institutionalisierung der antiken christlichen Theologie die Pluralisierung des antiken Christentums zur Folge hatte. Erst der spätantike und mittelalterliche Diskurs über die eigene Lehre entwickelte das anachronistische Modell von der Priorität der Orthodoxie und deren nachträglicher Verfälschung durch die Häresie."

NZZ, 24.10.

Konferenzen und Tagungen

Textkultur und Lebenspraxis

In Freiburg zog die Forschergruppe "Textkultur und Lebenspraxis" Bilanz ihrer Arbeit - Thomas Thiel berichtet in der FAZ von der Tagung, die Indologen, Japanologen, Historiker und weitere Wissenschaftler verschiedener Disziplinen versammelte: "Die Forschergruppe 'Textkultur und Lebenspraxis', deren leitender Geist der Freiburger Historiker Wolfgang Reinhard ist, zog jetzt auf einer Freiburger Tagung Bilanz ihrer Bemühungen. Das Abendland, das Reinhard nicht mehr unter dem Baldachin des Christentums versammelt sieht, nahm man zum Ausgangspunkt der Untersuchungen - schon deshalb, weil die Europäer, so Reinhard, den größten Eifer in das Verstehen fremder Kulturen setzten. Nicht selten lief dieser Eifer auf ein Missverstehen und Subsumieren hinaus: Gottfried Wilhelm Leibniz 'gelang' es etwa, die Grundkategorien des Konfuzianismus so in die eigene Terminologie zu übersetzen, dass sie ihm die eigene Geist-Materie-Theorie bestätigten."

FAZ, 27.10.

Figur des Märtyrers

Am Zentrum für Literatur- und Kulturforschung in Berlin befasste sich eine Tagung in historischer und aktueller Perspektive mit der Figur des Märtyrers. In der NZZ bringt Sieglinde Geisel die Tagung so auf den Punkt: "Ohne Sprache gibt es keine Märtyrer, so lässt sich als Essenz der Konferenz festhalten. 'Durch die magische Kraft des Wortes' würden die jungen Männer in islamischen Ländern dazu bewogen, sich zu opfern, stellte die Arabistin Angelika Neuwirth fest, die in der arabischen Sprache eine 'Resakralisierung' beobachtet. In der Gestalt der jungen, virilen Selbstmordattentäter kehre eine Inkarnation Gottes wieder, die in einer Umdeutung des 'rite de passage' der Hochzeit auch als 'Bräutigam' bezeichnet werde."

Der Mensch ist Mensch nur durch Sprache

Für die Süddeutsche Zeitung informiert Burkhard Müller über eine Tagung der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, die sich Wilhelm von Humboldts Satz "Der Mensch ist nur Mensch durch Sprache" widmete. Es wurde viel über das Verhältnis von Sprache und Bild diskutiert, stellt Müller fest: "Je länger die Veranstaltung währte, desto mehr glaubte man einem Turnier von Sprache und Bild beizuwohnen, das sich dann zugunsten der Sprache neigte. Das Bild wurde in seinen Trutzburgen aufgesucht und belagert.  ber die neuen bildgebenden Verfahren in der Medizin sprach Sabine Marienberg und ließ keinen Zweifel daran, dass sie nur der sprachlich strukturierenden Diagnose zuarbeiten."

SZ, 30.10.


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