Wissenschaftsjahr 2007 - 12.12. - 20.12.2007 (Doppelausgabe)

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12.12. - 20.12.2007 (Doppelausgabe)

Im Blickpunkt

Geisteswissenschaften: Institutionalisierte Kommunikation

In der Süddeutschen zieht Johann Schloeman Bilanz des Jahrs der Geisteswissenschaften und diagnostiziert Veränderungen der Institution Universität: "Interessant ist nun, dass die Nachfrage nach jenen 'typischen Kommunikatoren' in außeruniversitären Berufen sich mehr und mehr in den Anforderungen an die Beschäftigten innerhalb des akademischen Systems zu spiegeln beginnt. Man hat fast den Eindruck, die intensive Forschung der letzten Jahrzehnte über Kommunikation, die theoretische Aufwertung von Dialog und Interaktion hätten selbst einen neuen Typus des Akademikers generiert. Das einstige Ideal der Vertiefung und Versenkung, das die Philologien, die historischen Wissenschaften, die Philosophie pflegten, weicht jedenfalls auch wissenschaftsorganisatorisch der institutionalisierten Kommunikation."

SZ, 12.12.

Wahrheiten des Glaubens und Unglaubens

Der Philosoph James Gray geht in der SZ mit den neuen radikalen Atheisten ins Gericht. Nicht zuletzt, meint er, finden sich auch bei ihnen Glaubensstrukturen: "Dieser Atheismus ist ein einfacher Glaube. Seine Anhänger gehen davon aus, Religion werde vom Erdboden verschwinden, sobald alle Menschen ihre religiösen  berzeugungen über Bord geworfen haben. Religion ist indes weit mehr als nur Glauben. Auch legen viele unter den militantesten Atheisten Denkweisen an den Tag, die vom Christentum abstammen. In seinem Buch 'Das egoistische Gen' plädiert Dawkins leidenschaftlich für die Darwinsche Ansicht, die menschliche Spezies sei ein Produkt natürlicher Auslese. Menschen, schreibt er, sind 'Genmaschinen', von der Evolution dazu programmiert, sich fortzupflanzen. Doch in demselben Buch erklärt er: 'Wir sind die einzigen Wesen auf der Welt, die gegen die Tyrannei der egoistischen Replikatoren rebellieren können.' Woher hat Dawkins eigentlich diesen Glauben an die menschliche Freiheit?"

Der Tagesspiegel hat den Medienwissenschaftler Jochen Hörisch und den Philosophen Herbert Schnädelbach ebenfalls zum neuen Atheismus befragt. Hörisch antwortet ähnlich wie Gray: "Ist Gott offenbar? Zustimmungspflichtigerweise muss man sagen, dass es offenbar ist, dass Gott nicht offenbar ist. Denn sonst gäbe es keine Atheisten. Atheismus heißt allerdings, fromm zu sein. Warum? Weil die atheistische Grundbotschaft lautet: Ich habe dieses eine Leben, und danach kommt nichts mehr."

Und in der FR erläutert der Religionswissenschaftler Gerd Lüdemann historisch-kritische Wahrheiten über die Bibel-Evangelien: "Die Weihnachtsgeschichten enthalten überwiegend fiktive Elemente, die mit dem wirklichen Hergang nichts zu tun haben. So gab es weder eine reichsweite Schätzung unter Kaiser Augustus noch einen Kindermord in Bethlehem. Die Engel entstammen primitiver Mythologie, und die Hirten auf dem Felde ebenso wie die Magier aus dem Morgenland sind Idealpersonen. Die Erzählung über den Stern von Bethlehem ist eine Fiktion.  berdies wurde Jesus nicht in Bethlehem, sondern in Nazareth geboren."

Süddeutsche Zeitung, 17.12.

Themen der Woche

Tanz festhalten

In einem letzten Beitrag zur "Jahr der Geisteswissenschaften"-Reihe des Tagesspiegels erläutert Deutschlands einzige Professorin für Tanzwissenschaft Gabriele Brandstetter die Schwierigkeiten, die flüchtige Körperkunst Tanz schriftlich festzuhalten: "Die Erinnerung an einen Tanz ist nicht technisch kopierbar: Der Körper ist der Ort des Gedächtnisses, und der ganze Mensch ist an der Aneignung, Vermittlung,  bertragung von Bewegungen beteiligt. Wer je Tänzer bei der Erarbeitung einer Choreographie beobachtet hat, weiß, wie eindrucksvoll rasch und genau sie Bewegungsfolgen, Raumfiguren, Dynamiken des Ablaufs aufnehmen, erinnern und variieren. In diesem körperlichen Prozess werden Tänzer und Choreographen oft selbst zu Forschern. Dabei geht es nicht um sterile Rekonstruktion 'alter Tänze', sondern um die Verlebendigung einer vielleicht schon fremden Tradition."

Hölderlin, Schelling, Hegel: Geburt des Idealismus im Tübinger Stift

In der Reihe der Zeit zum Bildungskanon schildert Thomas Assheuer die Geschichte der großen Geister, die seit 1788 im Tübinger Stift versammelt waren: "Hölderlin, Schelling, Hegel: Was für eine Konstellation, was für eine 'einzigartige Fügung der Geistesgeschichte' (Manfred Frank). Fast über Nacht hat sie auf allen Feldern – in der Philosophie, in der Politik und der Kunst – die geistige Situation der Zeit verändert, und ihre Ausläufer sind noch heute zu spüren. Im Oktober 1788 zieht Hölderlin zusammen mit Hegel ins Stift ein; Schelling wird, gegen anfängliche Bedenken, im Herbst 1790 im Alter von erst 15 Jahren aufgenommen. Er bleibt fünf Jahre lang Stubengefährte Hegels und Hölderlins und bildet mit ihnen zusammen das, was man später die Keimzelle des deutschen Idealismus nennen wird."

Balzacs semiotischer Realismus

In der  NZZ feiert der Romanist Karlheinz Stierle anlässlich einer deutschen Neuausgabe von Honoré de Balzacs "Menschlicher Komödie" den Autor als einen Begründer der Moderne: "Die Stadt ist lesbar und für den Flaneur Gegenstand unablässiger Entschlüsselungen. Man könnte in dieser Hinsicht von Balzacs semiotischem Realismus sprechen. Das Einzelne verweist in unendlich vielfältigen Brechungen auf das Ganze, das Allgemeine, den Geist der gegenwärtigen Stadt, der gegenwärtigen Gesellschaft. Aber es ist zugleich Spur, Anzeichen, Vorzeichen, das die Phantasie in Gang setzt und den Leser in den Sog narrativer Erwartungen zieht, denen der dramatische Gang der Ereignisse antwortet. Die Stadt wird so zum Schauplatz vom Schicksal illuminierter Wege durch die Stadt, die sich kreuzen und wieder verlieren."

Darwin mit Foucault

In der taz lobt Cord Riechelmann den "Versuch des in Zürich lehrenden Historikers Philipp Sarasin, den Einfluss Darwins auf die Geschichtskonzeption und das Geschichtsdenken Michel Foucaults freizulegen". Sarasin hat einen bisher unveröffentlichten Text Foucaults entdeckt, der Foucaults nominalistische Lektüre der Evolutionstheorie belegt: "Am vergangenen Mittwoch zog Sarasin im Berliner Zentrum für Literaturforschung unter dem Titel 'Foucault liest Darwin - Bemerkungen zu einer stillen Referenz' eine erste Bilanz seiner Arbeit. Man kann schon jetzt sagen, dass es sich dabei neben Julia Voss' bereits erschienener Studie 'Darwins Bilder - Ansichten der Evolutionstheorie' um einen der avanciertesten Versuche handelt, Darwin vor den falschen Logiken des Biologismus und des Sozialdarwinismus zu schützen."

Konstrukt Mutter

Im Interview mit dem Spiegel meint die Literaturwissenschaftlerin Elisabeth Bronfen, dass man beim Nachdenken über die jüngsten Kindstötungen nicht vergessen sollte, dass "Mutterschaft" ein historisches Konstrukt ist: "Ich würde bei dem kulturellen Konzept 'Mutter' beginnen. In der Renaissance gab es weder 'die Mutter' noch 'das Kind' als kulturelles Konzept. Die semantische Aufwertung der Mutter als die Reine, Gute, Schützende und Nährende ist ein Resultat der bürgerlichen Kultur. Sie kommt aus dem 18. Jahrhundert, aus der Empfindsamkeit und der Romantik. Rousseau hat in seinen Texten zum Naturzustand als einer der Ersten behauptet, es gebe ein harmonisches Bündnis zwischen Kind und Mutter, ablesbar an Begriffen wie 'Muttermilch' oder 'Muttersprache': Was wir heute Mutter nennen, ist also ein Konstrukt."

Spiegel, 17.12.

Von Rom lernen

Der Althistoriker Martin Jehne spricht im Interview mit Berthold Seewald über die US-Fernsehserie "Rom", über die Realitäten im antiken Imperium und über die Frage, wie sich heutige "Imperien" von denen der Antike unterscheiden: "Die Kommunikationsbedingungen und Partizipationschancen in der Antike waren so, dass es nur einen Imperator an der Spitze geben konnte. Heute, denke ich, ist ein demokratisches Imperium durchaus denkbar, immer vorausgesetzt, die Zentrale akzeptiert, dass es unterschiedliche Lebenschancen und -formen in den einzelnen Regionen gibt. Rom war es egal, wie die Leute in Gallien oder Syrien lebten, solange sie Ruhe hielten und ihre Steuern zahlten."

Der Schrank in der Wissenschaft

Von einer wirklich originellen Ausstellung des Tübinger Universitätsmuseums weiß in der SZ Thomas Thiemeier zu berichten, in ihrem Zentrum steht - der Schrank: "Es geht um die Schränke der Universität Tübingen, um ihre Funktion als Ordnungssysteme, Präsentationsmöbel und Sicherheitsbehälter. In dieser Ausstellung treffen sich Geist und Materie und werden auf einen gemeinsamen Nenner gebracht: die Suche nach Systemen und Klassifikationen, die Grundlage jeglicher Theorie und Existenzberechtigung des Schrankes in der Wissenschaft sind. (...) Die Ausstellung ist im ehemaligen Wohnhaus eines Hausmeisters der Universität untergebracht, weil das zukünftige Museumsgebäude noch nicht hergerichtet ist. Ein Glücksfall, denn ohne den Zwang zur Improvisation bei geringen finanziellen Mitteln wäre diese kleine und sensibel kuratierte Ausstellung wohl nur halb so originell geworden."

Süddeutsche Zeitung, 17.12.

Website der Ausstellung: .

Bücher und Rezensionen

Johann Hinrich Claussen ist in der FAZ sehr beeindruckt von Albrecht Beutels auf den ersten Blick eher unscheinbarem Buch "Aufklärung in Deutschland": "Es kommt als gewöhnliches Fachbuch daher und ist doch ein Ereignis. Denn seit vor fünfzig Jahren Emanuel Hirsch seine fünfbändige 'Geschichte der neuen evangelischen Theologie' veröffentlichte, hat sich kein evangelischer Theologe mehr getraut, die Geschichte dieser Epoche zu erzählen. In einem wichtigen Forschungsbericht erklärte Kurt Nowak, dass die Aufklärungszeit 'zwar keine terra incognita mehr, allerdings auch kein besiedeltes Gelände' sei. Nun gibt Beutel einen Überblick, der über die politischen und sozialen Kontexte, die theologische Bedeutung, die Protagonisten und die kulturellen Auswirkungen der evangelischen Aufklärung verlässlich informiert."

FAZ, 19.12.

Als Standardwerk preist Eckhard Jesse in der NZZ den vom Historiker Wolfgang Kraushaar herausgegebenen Doppelband zur Geschichte der RAF. Besonders überzeugt ihn seine Multiperspektivität und Interdisziplinarität: "Der Themenbogen ist weit gespannt. Einer Analyse des Phänomens Terrorismus schließen sich Kapitel zu seinen ideologischen Wurzeln an, Porträts von Protagonisten wie der 'Hochstaplerexistenz' Andreas Baader, Ulrike Meinhof, Horst Mahler und Gudrun Ensslin und von anderen terroristischen Gruppierungen (etwa der in Westberlin beheimateten 'Bewegung 2. Juni'). Es folgen Kapitel zu den Faktoren und Dimensionen der RAF (mit einem instruktiven sprachwissenschaftlichen Beitrag von Olaf Gaetje Ùber das 'info'-System der RAF), zu den internationalen Parallelorganisationen und ihren Vernetzungen, zur Rolle des Staates, der Polizei und der Justiz, ferner zum Zusammenhang von Terrorismus und Medien und zum Terrorismus-Phantom."

Erfrischend und lehrreich findet Florian Kessler in der SZ einen von Ralf Klausnitzer und Carlos Spoerhase herausgegebenen Band zu "Kontroversen in der Literaturtheorie": "Der israelische Doyen einer fachübergreifenden Theorie der Kontroverse, Marcelo Dascal, hat Mindeststandards formuliert, die eine waschechte wissenschaftliche Auseinandersetzung erfüllen müsse. Dascal, dem Wissenschaft vor allem als 'Republik des Streits' gilt, hätte gewiss seine Freude an den insgesamt zwanzig detaillierten Analysen literaturtheoretischer Kontroversen von 'Wilamowitz-Moellendorf contra Nietzsche' über 'John Searle gegen Jacques Derrida' bis hin zu 'Old-style-Feminismus versus poststrukturalistische Gender-Theorie'."

SZ, 20.12.

Konferenzen und Tagungen

Die Zukunft der Prognose

Für die FAZ hat Gerald Wagner eine Berliner Tagung besucht, die sich mit dem Thema "Prognose" befasste - und danach fragte, wie es um prognostische Kompetenzen der Kunst steht: "Wird die Macht der Prognostik nachlassen? Wenn es um Klima, Bevölkerungswachstum und andere sozionaturale Verhängnisse geht, bestimmt nicht. Gefasst werden die Szenarios der wissenschaftlichen Politikberater vom maßvoll alarmierten Wähler zur Kenntnis genommen. Was bleibt ihm übrig? Und an wen sonst als die Politik sollte ihre Bewältigung delegiert werden? Darauf fand auch diese Tagung keine Antwort. Die Umkehrrufe prophetisch Begabter bleiben skurril und finden Erfüllung nur im Sektiererischen. Die Kunst mag kurzfristig irritieren, das Publikum aber bleibt distanziert und zerstreut sich beim Event."

FAZ, 19.12.

Blumenberg edieren

Im Literaturarchiv Marbach trafen sich die Editoren des Philosophen Hans Blumenberg und konnten sich, wie Patrick Bahners in der FAZ berichtet, weder über die Editionsprinzipien noch über die politische und geistesgeschichtliche Einordnung des Denkers einigen: "[Anselm] Haverkamp sieht für Blumenberg eine andere, respektabler ausgeleuchtete Ecke der Gelehrtenrepublik reserviert, in die ihn die Editoren mit vereinten Kräften bugsieren sollen. 'Wie sortieren wir Blumenberg in die französische Theorieformation ein?' Als 'verkappter französischer Philosoph' habe er schließlich sein Leben lang gegen Schmitt, Gadamer und Joachim Ritter 'angearbeitet'. Ziel der Werkabrundung aus dem Nachlass müsse sein, Blumenberg 'als epochal wirksamen Philosophen zu etablieren'."

Jürgen Busche bemüht sich in der SZ, den Nachlass auseinanderzusortieren: "In Blumenbergs Nachlass gab - und gibt es - einerseits die druckfertigen Manuskripte, wie der Kieler Philosoph und langjährige Blumenberg-Assistent Manfred Sommer berichtete, ebenso Manuskripte, die mehr oder weniger kurz vor der Fertigstellung zum Druck standen. Sie bereiteten niemandem Probleme. Dann habe es aber auch Manuskripte gegeben, von denen Hans Blumenberg in nächtlichen Gesprächen mitgeteilt habe, dass er sie soeben in die Papiermülltone geworfen habe. Welche hätte er noch gern dort entsorgt, wenn er Gelegenheit dazu gehabt hätte, lässt sich da fragen."

SZ, 12.12.


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