Wissenschaftsjahr 2007 - 07.11. - 13.11.2007

Springen Sie direkt: zur Hauptnavigation zu zusätzlichen Informationen





07.11. - 13.11.2007

Im Blickpunkt

Toleranz hoch drei

In der Welt erklärt der Philosoph Ottfried Höffe, dass die Frage nach der Möglichkeit des friedlichen Zusammenlebens der Kulturen und Religionen in einer Gesellschaft längst befriedigend beantwortet ist: "Die Frage ist aktuell, ihre Aktualität aber erstaunlich (...) Aktuell ist die Frage wegen Fremdenfeindlichkeit und religiöser Intoleranz. Erstaunlich ist die Aktualität, weil die Antwort längst bekannt und im Wesentlichen anerkannt ist. Sie besteht in einer dreidimensionalen Toleranz. Die politische Toleranz, die Toleranz als Rechts- und Staatsprinzip, erhebt die Religions- und die Meinungsfreiheit in den Rang eines Menschen- und Grundrechts. Nach der sozialen Toleranz, der Toleranz als Lebensprinzip einer Gesellschaft, darf man sich in beliebigen Lebensformen entfalten. Und aus personaler Toleranz, der Toleranz als Bürgertugend, tritt man den Menschen anderer Religionen, Konfessionen oder politischen  berzeugungen mit Achtung entgegen."

Der Koran - historisch-kritisch

Für den Tagesspiegel berichtet Bettina Mittelstraß von einer Tagung der Potsdamer Arbeitsstelle zum "Corpus Coranicum" (vgl. "Aus den Feuilletons" der letzten Woche). Die Methoden der historischen Koranlektüre beschreibt sie so: "Die Wissenschaftler wollen den einzelnen Versen aus den Suren des Korans christlich-jüdische Texttraditionen, sogenannte 'Intertexte', zur Seite stellen. Die arabischen, griechischen oder hebräischen Texte sind sich strukturell in ihrer Form, im Reim oder den auftauchenden Begriffen ähnlich. Das dokumentiert, welche Vorstellungen präsent waren und wie sich die theologische Richtung verändert. So taucht zum Beispiel der Name Jesus im Koran als Relikt jüdisch-christlicher Tradition auf, aber er wird dort verhandelt als Sohn der Maria (Isa ibn Mariara) und nicht mehr als Sohn Gottes, wie ihn die spätantike Welt kannte. In einem dritten Schritt wird der Text der Koranfrühschriften von den Mitarbeitern des Corpus Coranicum historisch-kritisch kommentiert. Es geht dabei nicht um einen Kommentar zu Glaubensinhalten, sondern um Form, grammatikalische Besonderheiten, literarische Gestalt der einzelnen Koranverse, um Chronologie oder konkrete Bezüge. "

Contemporary Islam

Auf der Geisteswissenschaften-Seite der FAZ stellt Gustav Falke die neu gegründete Zeitschrift "Contemporary Islam" vor, die auf einer Veranstaltung in Amsterdam präsentiert wurde. Wirklich überzeugt hat ihn die erste Ausgabe nicht: "Darum sollte es Reportagen und Reiseberichte geben, soziologische Untersuchungen der türkischen Gesellschaft und islamwissenschaftliche Analysen des gegenwärtigen Islams. Weniger nützlich sind Aufsätze zum nicht näher bestimmten muslimischen Leben. Sie befördern den Kulturantagonismus, den sie zu bekämpfen vorgeben, und leisten unter dem Vorzeichen der Interdisziplinarität methodischem und konzeptuellem Dilettantismus Vorschub. Ein abschreckendes Beispiel gab der Herausgeber der Zeitschrift, Gabriele Marranci, indem er das Ergebnis seiner umfangreichen Untersuchung junger englischer Pakistani folgendermaßen zusammenfasste: Mit hasserfüllten Gesten auf Demonstrationen kämpfen sie um Anerkennung."

FAZ, 7.11.

Themen der Woche

Fragmente einer Sprache der Ehre

Im Tagesspiegel berichtet Eva-Maria Götz von einem Vortrag der Historikern Ute Frevert, der sich um die Sprache des Ersten Weltkriegs und damit um einen wenig erforschten Aspekt der historischen Forschung drehte: "Dass die 'Sprache der Ehre und die Rhetorik des Krieges' mehr war als nur eine Drohgebärde, machte die Historikerin Ute Frevert, neue Direktorin am Berliner Max-Planck-Institut für Bildungsforschung, jetzt in einem Vortrag beim Max-Planck-Forum Berlin in einer Gesprächsreihe über Sprache deutlich. Zwar sei die Geschichte des Ersten Weltkrieges hervorragend erforscht und dokumentiert, sagte Frevert in der Heilig- Geist-Kapelle der Humboldt-Uni. Welche Rolle allerdings die Sprache in Krisensituationen spielt, inwieweit die bloße Wortwahl eine Situation vorantreibt – dies ist ein neuer Ansatz in der Geschichtsforschung. Der 'Geschichte der Gefühle' ist der Forschungsbereich gewidmet, den Frevert an ihrem neuen Institut gründet."

Giorgio Agamben über Gott als Generalmanager

Für die taz hat Dorothea Marcus Giorgio Agambens Vorlesung zum Antritt der Albertus-Magnus-Gastprofessur der Universität Köln besucht, deren Kernpunkte sie wie folgt referiert: Agamben "erläutert in langsam vorgetragenen Sätzen, wie der Begriff der 'Ökonomie' seit dem 2. Jahrhundert von Theologen auf Gott bezogen wird. Da oikonomos auf Griechisch Hausverwalter bedeutet, habe sich daraus die Vorstellung ergeben, dass Gott zwar Herr im Haus sei, eine Art Generalmanager der Welt, aber nicht alles bestimme, was in den Verzweigungen der Verwaltung geschehe. Er regiere also nicht direkt - wisse nicht, 'wie viele Mücken es auf der Welt gibt', so Agamben -, sondern in universellen Prinzipien. Das sei ein fundamentaler Unterschied zu islamischen Traditionen, so Agamben: Dort herrsche die Vorstellung, dass Gott in jedes Ereignis direkt eingreife und nichts ohne seine Zustimmung passiere. Die Teilung zwischen göttlicher Herrschaft und weltlicher Verwaltung ist nach Agamben die Grundannahme westlicher Demokratien, und sie erkläre die Gewaltenteilung von Legislative und Exekutive - aber auch die von Gott und seinem irdischen Sohn."

Projekt-Professoren: Produktiv und Prekär

Der französische Soziologe Luc Boltanski warnt, wie der in Bielefeld lehrende Literaturwissenschaftler Friedmar Apel in der FAZ referiert, vor den neuen, in erster Linie Quantitäten, nicht Qualitäten produzierenden "daueraktiven" Projekt-Professor: "Der Schüler Pierre Bourdieus prophezeit den europäischen Gesellschaften vielmehr die Herausbildung eines neuen Felds sozialer Kämpfe, auf dem der 'Prekarität der beruflichen Situation' immer öfter zermürbend die 'Prekarität der persönlichen Situation' entsprechen wird. Dem wird auch der vereinheitlichte europäische Hochschulraum nicht entrinnen. Die Akademie als Lebensform wird, vor allem in den Geisteswissenschaften, in dieser zweckrationalen Reorganisation sozialer Beziehungen sehr schnell die Reste ihrer außeralltäglichen Besinnungsrefugien einbüßen - und damit ein nicht zu unterschätzendes Quantum an Anziehungskraft für exzellente weil gedankenreiche Köpfe."

FAZ, 12.11.

Adorno-Vorlesungen: Der Kunsthistoriker Horst Bredekamp

Die Frankfurter Adorno-Vorlesungen hält in diesem Jahr der Kunsthistoriker Horst Bredekamp. Aus diesem Anlass stellt Arno Widmann in der Frankfurter Rundschau den Wissenschaftler und seine zentralen Thesen vor: "Wir haben, das macht Bredekamp klar, nicht verstanden, wie Welterkenntnis funktioniert, wenn wir nur den Anteil sehen, den die Fähigkeit zur Abstraktion daran hat. Zu den Wörtern gehören die Figuren. Horst Bredekamp zeigt, wie Wissen produziert wird. Er zeigt uns den bildnerischen Anteil daran, wie noch niemand es getan hat. Er klärt uns auf über uns. Horst Bredekamp sagt uns aber nicht, wie Wissen produziert werden soll. Aber wer seine Bücher liest, dem wird klar, dass unser Erziehungswesen uns verdummt. Es verstümmelt uns. Es macht uns blind und lahm. Es lehrt uns nicht, unsere Sinne und unsere Fingerfertigkeit zu nutzen. Es glaubt, unseren Verstand zu schärfen, indem es sich ganz auf ihn konzentriert."

Bücher und Rezensionen

Im Deutschlandradio freut sich Winfried Sträter, dass die wichtigsten Aufsätze des Historikers Heinrich August Winkler aus den letzten dreißig Jahren jetzt in einem Band gesammelt vorliegen: "Winkler versteht es vorzüglich, seine Leser herauszufordern, indem er herkömmliche Sichtweisen über Bord wirft, überraschende Perspektiven aufzeigt und eingefahrene Urteile korrigiert. (...) In dem Essayband bekommen die Leser Winklers wichtigste Thesen und Gedanken serviert, die er in seinem Werk über die deutsche Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts entwickelt hat. In dieser knappen Form wird noch einmal deutlich, welch ein scharfsinniger Politikhistoriker er ist - auch wenn er bisweilen Motive wie die Angst vor dem Bürgerkrieg überstrapaziert."

In der FAZ feiert Ernst Osterkamp die ersten beiden Bände der historisch-kritischen Karl-Philipp-Moritz-Ausgabe die bedeutenden historisch-kritischen Ausgaben wollen ja nicht als Medien der historischen Distanzierung - der Einsargung von Texten in komplexe philologische Apparate - gelesen werden, sondern als Medien der entschiedenen Verlebendigung der Werke aus ihren historischen Voraussetzungen. In diesem Sinne ist der kritischen und kommentierten Ausgabe der sämtlichen Werke von Moritz ein glänzender doppelter Auftakt gelungen: Lebendiger als in dieser Edition, in der bisher das bekannteste - 'Anton Reiser' - und das doch wohl unbekannteste Buch - 'Anthusa oder Roms Altertümer' - dieses spät entdeckten Klassikers der deutschen Literatur erschienen und durch überwältigend aufschlussreiche Kommentare neu zugänglich gemacht worden sind, ist Moritz' Werk nie gewesen."

FAZ, 10.11.

Konferenzen und Tagungen

Bücher, Preise, Mitgliedschaften und Heiliger Krieg

In München tagte die Bayerische Akademie der Wissenschaften - übrigens in der Besetzung 14 Männer, 0 Frauen - und diskutierte (bzw. trug vor) zu Geschichte und Gegenwart "Heiliger Kriege". In der SZ referiert Johan Schloemann, der die Warnung des Akademie-Präsidenten Dietmar Willomeit vor dem Gefahrenpotenzial der Verabsolutierung westlicher Grundrechte nicht von der Hand weisen will: "Aus dem 'Bedürfnis nach Verbindlichkeit', das den Konstitutionen des Westens einen transzendentalen Charakter verleihe, sei auch die 'gefährliche Semantik des amerikanischen Präsidenten' abzuleiten. Und so ist heiliger Krieg heute laut Willoweit nicht einfach eine zweckentfremdende Instrumentalisierung von Religion oder 'Werten' durch den Staat - sondern 'möglicherweise eine furchtbare Konsequenz des sakralisierten Verfassungsstaates'."

Für die FAZ hat sich Florentine Fritzen in die Höhle der Löwen gewagt und Wissenschaftsrituale erlebt: "Man trägt unbedingt Krawatte, zuweilen kombiniert mit burgunderfarbenem Pullunder unter dem Sakko. Brillen werden zum Lesen auf- oder abgesetzt. Wenn die Moderatoren die Referenten vorstellen, zählen sie Bücher, Preise, Mitgliedschaften auf, obwohl alle von diesen Büchern, Preisen, Mitgliedschaften wissen. Die meisten sind oder waren einmal Stipendiaten des Historischen Kollegs."

Süddeutsche, 12.11.

FAZ, 12.11.

Geschichtspolitik nach 1989

Andreas Mix hat für die Berliner Zeitung eine hochaktuelle zeitgeschichtliche Tagung besucht: "Während der Bundestag am geschichtsgesättigten 9. November ein Denkmal für Einheit und Freiheit auf den Weg brachte, der Kulturausschuss über das neue Gedenkstättenkonzept des Kulturstaatsministers beriet und die Dokumentationsstätte für Flucht und Vertreibung langsam institutionelle Kontur gewinnt, diskutierten Deutsche, Polen und Franzosen im Deutschen Historischen Museum über 'Strategien der Geschichtspolitik in Europa nach 1989'."

Für die taz war Christian Semler vor Ort.


Springen Sie direkt: zur Hauptnavigation zum Seitenanfang