Wissenschaftsjahr 2007 - 29.08. - 04.09.2007

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29.08. - 04.09.2007

Im Blickpunkt

Deutsche Kulturgüter in Krakau gut aufgehoben

Norbert H. Ott, Leiter des "Katalogs deutschsprachigen illustrierten Handschriften des Mittelalters" bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, hat, wie er in der SZ darlegt, wenig Verständnis für aktuelle Rückforderungen an polnische Archive – aus grundsätzlichen, aber auch konkreten Gründen: "Doch auf Kulturgüter wie die nach Krakau geratenen Beethoven-Partituren, die Schiller-Manuskripte oder das Marienlied des Priesters Wernher, eine der ältesten Bilderhandschriften deutscher Sprache, kann es keinen privaten, ja nicht einmal einen nationalen Anspruch geben. [...]  Wer als Kunst- und Literaturwissenschaftler Erfahrung im Umgang mit diesen Objekten gesammelt hat, weiß, dass er sich auf die Kooperationsbereitschaft der polnischen Kollegen verlassen kann: Mit Auskünften, Fotos, Mikrofilmen und neuestens vorzüglichen Digitalisaten wird man bestens versorgt und kann vor Ort problemlos arbeiten. "
In der FAZ sieht Heinrich Wefing die Sache kritischer, warnt aber auch vor maßlosen Forderungen: "Dabei gibt es zu Verhandlungen, so zäh und undankbar sie auch sein mögen, keine Alternative. Ausschließlich auf dem juristischen Standpunkt zu beharren, die Kulturgüter müssten nach Deutschland zurück, wird nichts bringen. Dann behielte Berlin womöglich recht. Aber Polen behielte die Bücher."

SZ, 3.9.
FAZ, 4.9.

Themen der Woche

Etienne Balibar und die Egaliberté

Im Rahmen der jährlichen Rohkunstbau-Kunst-Ausstellung  war in Potsdam der französische Sozialphilosoph Etienne Balibar zu einer Diksussionsrunde zum Begriff der Gleichheit eingeladen. In der Frankfurter Rundschau  berichtet Albrecht Lüter: "Begleitet und kommentiert von Albrecht Wellmer, Ulrich K. Preuß und Jason Hill ging der französische Philosoph Étienne Balibar unter der Ägide der Heinrich-Böll-Stiftung den Paradoxien und Dynamiken des Gleichheitsbegriffs nach. [...] Balibars Kunstbegriff der 'Egaliberté', der Gleichfreiheit, verwies schon einleitend darauf, dass es hier nicht eigentlich um Politikberatung gehen sollte. Einigkeit herrschte darüber, dass sich Gleichheit nicht länger nur negativ als Abwesenheit von Diskriminierungen oder Privilegien verstehen lässt, sondern auf Voraussetzungen aufbaut, die 'social citizenship' (T.H. Marshall), soziale Grundrechte und Partizipationschancen unausweichlich gemacht haben."


Die abtransportierte Bibliothek

Es ging rechtlich alles korrekt zu, ungewöhnlich ist der Fall dennoch: Die Hamburger Orient-Bibliothek wurde von ihrem Eigentümer, der Numov-Stiftung, von Hamburg nach Berlin transportiert – wo nun nach einer neuen Bleibe gesucht wird. Amory Burchard schildert im Tagesspiegel die Hintergründe der Geschichte. "Für Hamburg sei der Verlust der Bibliothek 'eine absolute Katastrophe', sagt Bettina Dennerlein, neu berufene Professorin für Kultur und Geschichte der modernen arabischen Welt an der Uni Hamburg. Wissenschaftlern und Studierenden fehlt jetzt gewissermaßen die Hälfte des arabischen Raums."


Chinesischer Staatspreis für Wolfgang Kubin

In der FAZ porträtiert Mark Siemons den Sinologen Wolfgang Kubin, der bei der Buchmesse in Peking mit dem Großen Staastpreis des Volkes ausgezeichnet wurde. Eine durchaus überraschende Wahl, wie Siemons findet: "Dass Wolfgang Kubin am heutigen Mittwoch in der Großen Halle des Volkes den Staatspreis der Volksrepublik China erhält, könnte man für eine Ironie der globalen Literaturbetriebsgeschichte halten. Seit Jahrzehnten lässt der Bonner Sinologe und Dichter nichts unversucht, sich bei allen staatlichen und gesellschaftlichen Gewalten, vor allem Chinas, unbeliebt zu machen, wenn er dies denn seinem strengen Verständnis von Literatur schuldig zu sein glaubt. Zumal nach der Niederschlagung der Studentenbewegung von 1989 übersetzte und förderte er nach Kräften die Lyriker, die damals in Ungnade gefallen und ins Exil getrieben worden waren: Yang Lian oder Gu Cheng, der sich das Leben nahm, Bei Dao, den er immer wieder für den Nobelpreis ins Gespräch brachte. Letztes Jahr sorgte er mit seinen Äußerungen, die chinesische Gegenwartsliteratur lasse es an Weltläufigkeit und Selbstreflexion vermissen, für eine monatelang anhaltende Diskussion im chinesischen Internet."

FAZ, 29.8.

Wolf Lepenies erinnert an August Comte

In der Welt erinnert der Soziologe Wolf Lepenies anlässlich dessen 150. Geburtstags an den Philosophen Auguste Comte und sein einflussreiches "Dreistadiengesetz": "Im Mittelpunkt des Frühwerks stehen eine geschichtsphilosophische Systematik und die Konstruktion einer enzyklopädischen Wissenschaftspyramide mit der Soziologie an der Spitze. Die Geschichte der Menschheit unterteilte Comte in drei Stadien. Im ersten, dem theologischen, stellten sich die Menschen die Frage nach dem Warum ihrer Existenz. [...] Im zweiten, dem metaphysischen Stadium, versuchten die Menschen, sich die Welt ohne den Rückgriff auf außerweltliche Instanzen verstehbar zu machen. Aber immer noch stellten sie die Frage: Warum? Erst wenn diese Frage aufgegeben wird, so Comte, kann die Menschheit in ihr letztes, das positive Stadium, eintreten. Dann interessiert nicht mehr das Warum, sondern nur noch das Wie: Funktionszusammenhänge werden erforscht, ohne nach letzten Ursachen zu suchen."

Zur Farbigkeit antiker Marmorplastik

Auf der Geisteswissenschaften-Seite der FAZ stellt Michael Siebler ein interdisziplinäres Forschungsprojekt zur Erforschung der antiken Marmorplastik in Aussicht: "So ist es sehr zu begrüßen, dass jetzt auf der Basis ausgewählter Beispiele und eindeutiger, unausweichlicher Befunde und Realitäten ein Handbuch zur 'Polychromie der griechischen Marmorplastik' in Angriff genommen werden kann, das alle formalen, ästhetischen und inhaltlichen Gesichtspunkte der neuen Forschungen auf diesem Gebiet dokumentiert. Bei diesem Unternehmen wird der diesjährige Leibniz-Preisträger Oliver Primavesi aus München, der wohl beste Kenner der einschlägigen Schriftquellen zur antiken Polychromie, für die philologischen Aspekte verantwortlich zeichnen. Vinzenz Brinkmann wird sich mit den archäologischen Fragestellungen beschäftigen und Ulrike Koch-Brinkmann die maltechnischen Feinheiten ausloten."

FAZ, 29.8.

Die zweifache Identität des Joseph Conrad

Der Slawist Ulrich M. Schmid veröffentlicht in der Wochenendbeilage "Literatur und Kunst" der NZZ einen großen Artikel über Joseph Conrads polnische Herkunft und ihre Folgen für sein literarisches Schaffen: "Das Thema der zweifachen Identität zieht sich wie ein Leitmotiv durch Joseph Conrads Schaffen, das in verschiedenen Varianten immer dieselbe autobiografische Problematik durchspielt. Angelegt ist das Auseinandertreten von privater und öffentlicher Existenz bereits in Conrads Namen: Er kam als Jozef Teodor Konrad Korzeniowski 1857 als Sohn eines polnischen Adligen in der Ukraine zur Welt. Der Rufname Konrad verfügt in Polen über prominente Konnotationen: Der Nationaldichter Adam Mickiewicz hatte 1828 in seinem Poem 'Konrad Wallenrod' einen Protagonisten mit zwei Identitäten eingeführt. Der Titelheld ist gebürtiger Litauer, wird aber von Deutschen erzogen."

NZZ, 1.9.

Martin Heidegger, Peer Steinbrück und die Liebe

Zu einer Begegnung der ungewöhnlichen Art kam es in Berlin: Finanzminister Peer Steinbrück las aus den Briefen des Philosophen Martin Heidegger an seine Schülerin und Geliebte Hannah Arendt. Alexander Cammann konstatiert in der FAZ, dass der Politiker nicht gerade eine Wahlverwandtschaft zum Philosophen der Existenz empfindet: "Die Sprache Heideggers fand er 'kaum bekömmlich', so die Erfahrung nach seiner ersten öffentlichen Lesung in den Bonner Kammerspielen vor einiger Zeit. Philosophisch bevorzugt Steinbrück ohnehin wie der von ihm verehrte Altkanzler Helmut Schmidt den Pragmatismus eines Karl Popper. Und die Existenzphilosophie Heideggers eignete sich noch nie für Letztbegründungen sozialdemokratischer Reformen."

FAZ, 29.8.

Bücher und Rezensionen

Außerordentlich lesenswert findet Konstantin Sakkas im Tagesspiegel einen Sammelband, der die Enteignung jüdischer Geschäfte in Berlin untersucht. Bei "Arisierung in Berlin" handle es sich um "ein glänzend recherchiertes Gemeinschaftsprojekt dreier junger Historiker. Die Herausgeber Christof Biggeleben, Beate Schreiber und Kilian J. L. Steiner spannen gemeinsam mit ihren Koautoren den Bogen von der Vorgeschichte in Kaiserreich und Republik über die NS-Zeit bis zu den Entschädigungsbemühungen nach 1945. Ihre Quintessenz: Auch für die deutsche Wirtschaftselite bezeichnen die Jahre von 1933 bis 1945 den denkbar größten moralischen Zusammenbruch, den eine soziale Führungsschicht erleben kann."

Als ganz und gar überzeugend lobt Paul Jandl in der NZZ einen Band mit Aufsätzen des Literaturwissenschaftlers Paul Michael Lützeler über die europäische "Kontinentalisierung" der Literatur: "Mit stupendem Wissen und grosser intellektueller Kombinationsfreude bewegt sich sein Buch durch die Zeiten und Geografien. [...] Die penible Beschäftigung Lützelers mit dem Thema Europa kann in dieser Hinsicht auch als subtile Warnung vor dem Primat einer gleichmacherischen Ökonomie gelesen werden. Dass die Literatur im Prozess der Globalisierung eine kritische Substanz hat, weil ihre Beschäftigung mit den historischen, kulturellen und soziologischen Details das grosse Ganze relativiert und in seinen Konsequenzen erst deutlich macht, daran lassen Paul Michael Lützelers Aufsätze keine Zweifel."
Dazu passt, dass Lützeler in der Welt Rüdiger Safranskis großes "Romantik"-Buch bespricht, darin aber gerade die europäische Dimension vermisst: "Auch die Grundthese, dass die Romantik 'eine deutsche Affäre' sei, überzeugt nicht. Safranski schreibt abschließend: 'Die Romantik ist eine glänzende Epoche des deutschen Geistes, mit großer Ausstrahlung auf andere Nationalkulturen.' Richtiger müsste es heißen: 'Die Romantik ist eine glänzende Epoche des europäischen Geistes mit großer Ausstrahlung auf die Kulturen anderer Kontinente.'"

Safranskis populärwissenschaftliches Buch wird darüber hinaus in der SZ besprochen – auch Lothar Müller zeigt sich eher enttäuscht: "Wenn im biographischen Parforceritt durch die deutsche Geistesgeschichte Hegels Philosophie und Langemarck, das Dionysische und die politische Romantik, Wagners Tristan und Hermann Hesses Morgenlandfahrer alle im selben Schiff des 'Romantischen' unterwegs sein sollen, dann geht das nur, weil dieses Schiff schon im ersten Teil seiner Reise die begriffliche Unschärfe an Bord genommen hat."

NZZ, 30.8.
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SZ, 1.9.

Konferenzen und Tagungen

Zum Status der Begriffsgeschichte

Uwe Justus Wenzel war für die NZZ bei einer Tagung im Literaturarchiv Marbach, die sich mit der Geschichte der Begriffsgeschichte befasste – und mit der Frage nach ihrem Status innerhalb der Philosophie: "Eine philosophisch gewichtigere Frage hat Dieter Teichert (Konstanz) aufgeworfen, eine, die der niveauvollen Diskussion noch immer harrt: Ist Begriffsgeschichte (samt integrierter Metaphernanalyse) nur eine Hilfsdisziplin der Philosophie – oder ist sie selbst Philosophie: ein Medium denkerischer Herkunftsbesinnung nicht nur, sondern auch ein unabdingbares Mittel philosophischen Fortschreitens in die Zukunft?"

Die "Wahlverwandtschaften", interdisziplinär betrachtet

In der FAZ referiert Helmut Mayer eine Diskussionsveranstaltung in Frankfurt zu Goethes Roman "Wahlverwandtschaften", an der der Gehirnforscher Wolf Singer, der Literaturwissenschaftler Peter von Matt und die Autorin Thea Dorn beteiligt waren: "Von Matt hatte einiges zu tun, um Goethes Darstellung der Liebe als Elementarkraft herauszustellen. Eine Kraft, die das sorgsam ausbalancierte Ordnungsgefüge der versuchten kleinen Idealwelt von Goethes Protagonisten unbarmherzig zum tragischen Kollaps führt.
Singer war für das Elementare wie für die von Goethe gewählte 'Laborsituation' als Naturwissenschaftler durchaus zu gewinnen. Allerdings behielt nur von Matt klar vor Augen, dass man von einem literarischen Text sprach, während Singer und auch die Schriftstellerin Thea Dorn unter der Hand immer schon bei den realen Lebens- und Liebesverhältnissen angelangt waren, über die die Figuren der 'Wahlverwandtschaften' Aufschluss geben sollten."

FAZ, 30.8.


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