Wissenschaftsjahr 2007 - 05.12. - 11.12.2007

Springen Sie direkt: zur Hauptnavigation zu zusätzlichen Informationen





05.12. - 11.12.2007

Im Blickpunkt

Geschichte und Gegenwart der Coolness

In Berlin fragte eine interdisziplinäre Tagung unter großer Beachtung des Feuilletons nach der Bedeutung von "Apatheia - Besonnenheit - Coolness" in Geschichte und Gegenwart. In der FR schreibt Harry Nutt über den Vortrag des Literaturwissenschaftlers Helmut Lethen: "Helmut Lethen, der Altmeister im Ausdeuten von Kältelehren, führte einmal mehr vor, dass das Pathos der Kälte im 19. Jahrhundert das Ergebnis mehrerer zusammentreffender Unheilserzählungen ist. Die Erfahrung einer transzendentalen Obdachlosigkeit trifft auf die Eiseskälte der Rationalität und die Dynamisierung ökonomischer Prozesse. Die Begriffskarriere der Entfremdung sei letztlich zurückzuführen auf die Urangst vor der Trennung von der Mutter. Intellektuelle Abwehrstrategien empfehlen ein Ausharren in der Kälte (Nietzsche), ein Ergebnis ist später der Stahlrohrstuhl im Bauhaus-Design."

Ekkehard Knörer konzentriert sich in der taz auf zwei weitere Vorträge: "Direkter als einem lieb sein dürfte schlossen sich die Vorträge der Soziologin Eva Illouz und des Historikers Peter Stearns an Lethens Präfaschismus-Diagnosen an. Beiden ging es um die amerikanische Kultur des 'emotional cool' und damit um die im 20. Jahrhundert entwickelten Formen, Affekt und Affektbeherrschung zu balancieren."

Und in der Welt referiert Matthias Heine, wie Jugendliche in Afrika die HipHop-Coolness junger Afroamerikaner imitieren: "Sie nutzen das moderne amerikanische Konzept der Ghetto-Coolness, um den eigenen niedrigen sozialen Status aufzuwerten. Wie die Kölner Afrikanistin Heike Behrend erklärte, handele sich dabei gewissermaßen um einen Re-Import. Denn in vielen afrikanischen Sprachen und Gesellschaften war 'Kühle' traditionell eine Eigenschaft von Autoritätspersonen. Das weite Feld des Kühlen umfasste u. a. auch 'Seelenfrieden', 'Stille' und 'Nähe zu den Göttern'."

Themen der Woche

Prokne: Die Kindsmörderin als Heldin

Der Archäologe Luca Giuliani ist der neue Rektor des renommierten Berliner Wissenschaftskollegs. In Berlin hielt er jetzt eine Art Antrittsvorlesung zur Bedeutung einer in der Akropolis aufgestellten Prokne-Statue. Patrick Bahners hat ihn sich für die FAZ angehört: "Prokne tötete ihren Sohn, kochte das Fleisch und setzte es dem Vater des Kindes vor. Ovid erzählt, dass Philomela von den Göttern in eine Schwalbe verwandelt wurde und Prokne in eine Nachtigall. Was sollte die Statue der zu Kindsmord und Kannibalismus entschlossenen Prinzessin im Stadtheiligtum der Athener bedeuten? (...) Giuliani zitierte literarische Quellen, die verständlich machen, weshalb die Tat der Prokne als ehrenvoll gesehen werden konnte. Demosthenes empfahl sie den Nachkommen des Königs Pandion zur Nachahmung, ohne den Kindsmord beim Namen zu nennen. Erechtheus, der Großvater der Prokne, soll seine Tochter dem Wohl der Stadt geopfert haben; Euripides lässt die Mutter ausrufen, sie hasse Frauen, die das Leben ihres Kindes höher schätzten als Ehre und Pflicht."

FAZ, 5.12.

Seyla Benhabib über das Weltbürgerrecht

Alexandra Kemmerer war dabei, als Seyla Benhabib in Leipzig einen Vortrag zur Theorie des Weltbürgerrechts hielt. Auf der Geisteswissenschaftenseite der FAZ referiert Kemmerer: "Die amerikanische Philosophin und Politikwissenschaftlerin Seyla Benhabib hat Kant und Arendt nun in ihrer Leipziger Simon-Dubnow-Vorlesung in einen Dialog verwickelt, in dem auch ihre eigene Stimme deutlich zu hören war. Kants 'Weltbürgerrecht' erwies sich dabei als Schlüssel zum Verständnis der vieldeutigen Wendung vom 'Recht, Rechte zu haben', die Hannah Arendt, selber staatenlos geworden, 1949 in 'Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft' als Antwort auf den Untergang des europäischen Systems der Nationalstaaten in der Zwischenkriegszeit formulierte."

Frankfurter Allgemeine Zeitung, 5.12.

Zum Tod von Stéphane Mosès

Zum Tod des Literaturwissenschaftlers und Philosophen Stéphane Mosès schreibt in der NZZ Andreas Kilcher: "Mit ihm verlieren wir einen Philosophen und Literaturwissenschafter des Judentums von europäischem Format, der zwischen Kulturen und Disziplinen ebenso vermittelte wie zwischen Tradition und Säkularisation. Seinem Leben war die gebrochene Geschichte des 20. Jahrhunderts eingeschrieben. Geboren wurde er 1931 in Berlin. Als er sechs Jahre alt war, emigrierte seine Familie mit ihm aus dem Deutschland der Nazis ins französische Marokko. So wurde der junge deutsche Jude zuerst mit der französischen Kultur vertraut. Dennoch entschloss er sich nach dem Krieg, in Paris ausgerechnet deutsche Literatur zu studieren. Er tat dies bald auch mit einer jüdischen Perspektive, indem er 1969 nach Israel emigrierte."

In einem sehr knappen Nachruf in der FAZ würdigt Lorenz Jäger den Denker: "Als Literaturwissenschaftler hatte er begonnen, aber die Sache selbst erforderte, dass Mosès in die Philosophie ausgriff und spät auch die Heilige Schrift kommentierte. 'Spuren der Schrift' (1987) hieß das Buch, mit dem er in Deutschland bekannter wurde. 1931 wurde er in Berlin geboren, 1937 emigrierte er mit seinen Eltern in die französische Kolonie Marokko. In Paris studierte er nach dem Krieg deutsche Literatur. Sein Judentum sah er nicht mehr religiös begründet, vielmehr empfand er sich als Angehörigen einer 'Schicksalsgemeinschaft', wie er in einem Gespräch erklärte."

Neue Zürcher Zeitung, 5.12.

FAZ, 5.12.

Bücher und Rezensionen

Das Erscheinen eines kleinen Bands mit Texten des französischen Philosophen Alexandre Kojève nimmt Cord Riechelmann in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung zum Anlass für ein großes Porträt des ungemein einflussreichen Denkers: "Im Berliner Merve-Verlag ist nun ein kleiner Band erschienen, dem der Herausgeber Andreas Hiepko den treffenden Titel 'Überlebensformen' gegeben hat. Der Band enthält zwei in den fünfziger Jahren erschienene und bisher nicht auf Deutsch verfügbare Rezensionen Kojèves. Sie gelten drei Romanen Raymond Queneaus, die Kojève 'die Romane der Weisheit' nennt, und Françoise Sagans 'Bonjour Tristesse'. Die Kritiken sind zugleich Illustrationen der These vom Ende der Geschichte. Sie nehmen den Inhalt der Bücher auf und kritisieren ihn nicht."

Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 9.12.

In der Berliner Zeitung stellt Gerd Herzog das neue Buch des Historikers Jörg Friedrich vor, der mit seiner heftig umstrittenen Darstellung des Bombenkriegs mit dem Titel "Der Brand" einen Bestseller landete. In "Yalu" befasst sich Friedrich mit dem Koreakrieg: "Der Koreakrieg war der dramatische Höhepunkt jenes Jahrzehnts nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, als die erfahrensten und klügsten Köpfe einen Dritten Weltkrieg nicht nur für möglich, sondern für wahrscheinlich hielten. (...) In seinem neuen Buch nimmt Friedrich sich (...) des vergessenen Krieges an - mit demselben Eifer, mit dem er sich zuvor den deutschen Opfern des alliierten Bombenkrieges annahm. Wie damals ist die Darstellung reich an zupackenden Formulierungen ('Wenn die Front wackelt, lässt man es nicht auf Krieg ankommen') und kühnen, nicht immer stimmigen Bildern ('Die Funken des Kalten Krieges flogen überall'). Sie ist zugleich sorgfältig zurückhaltend, wo Zweifel bleiben müssen."

Sehr viel weniger freundlich äußert sich in der SZ Franziska Augstein über das Buch: "Friedrich will nicht erzählen, was sich zugetragen hat, sondern - so wie er es auch schon in 'Der Brand' (...) getan hat - die Apokalypse evozieren. Diesmal anhand der Atombombe. Er beginnt mit Hiroshima und Nagasaki, erwähnt die Berlin-Blockade 1948/49 und kommt dann zum Koreakrieg. Luftstreitkräfte bezeichnet er als 'himmlische Heerscharen'. Atombomben nennt er 'biblische Vernichtungsplagen'."

SZ, 11.12.

Konferenzen und Tagungen

Abstraktion und Einfühlung: Wilhelm Worringers Klassiker

Eine Tagung in Bern erinnerte an das Erscheinen des kunsthistorischen Klassikers "Abstraktion und Einfühlung" von Wilhelm Worringer, das sich gerade zum hundertsten Mal jährte. In der FAZ berichtet Thomas Thiel von der Tagung: "Worringer argumentierte, so Hannes Böhringer (Braunschweig), aktualitätsfern und ahistorisch. Aus der Geschichte, aus Soziologie und Evolutionstheorie holt er sein Material und exerzierte in großartiger Vehemenz - mit gewagten Setzungen (eines unbegründeten Urzustandes), Affekten (gegen die Klassik) und Vorlieben (für die Gotik) - seine Generalthese durch. Er forschte nicht, er las und schrieb, griff sich ein Detail heraus, aus dem er wiederum die Grundbefindlichkeit des Menschen und einer Zeit abstrahierte."

FAZ, 5.12.


Springen Sie direkt: zur Hauptnavigation zum Seitenanfang