Wissenschaftsjahr 2007 - 15.08. - 21.08.2007

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15.08. - 21.08.2007

Im Blickpunkt

Beispielhafte Neu-Übersetzungen der Weltliteratur

In der Welt freut sich der in Stanford lehrende Komparatist Hans Ulrich Gumbrecht über den Trend zu Neuübersetzungen der Weltliteratur - und zwar in anspruchsvoll edierten Ausgaben: "Zum Typus dieser Bände gehören ausführliche Kommentare, Glossarien und editorische Notizen. Oft geraten die Erläuterungen über einzelne Wörter und Referenzen zu dichten kulturhistorischen Vignetten, wie etwa in der erwähnten Dostojewskij-Ausgabe, wo sich die Etymologie des russischen Wortes für 'Bahnhof' ('woksal' nach dem englischen 'Vauxhall') zu einer kleinen Geschichte der europäischen Vergnügungsindustrie entwickelt... Manchmal frage ich mich zwar, wie nicht-professionellen Lesern mit der ausführlichen Darlegung vertrackter philologischer Probleme in Bezug auf die Original-Texte gedient ist - aber solche Zugaben gehören heute jedenfalls zum Standard der anspruchsvollen Verlage. Das gilt auch für die opulenten 'Nachworte' als drittem Element in der Rahmung von Klassiker-Texten. Sie befinden sich ganz selbstverständlich auf dem neuesten Stand der literarhistorischen Forschung und überbieten in ihrer stilistischen Eleganz und Leserfreundlichkeit - fast möchte man sagen 'spielend' - die literaturwissenschaftliche Konkurrenz."

Terror im Irak gegen Glaubensgemeinschaft der Yezidi

Die koordinierten Anschläge gegen die Glaubensgemeinschaft der Yezidi waren mit mehr als 400 Toten das größte Blutbad seit der Besetzung des Landes. In der NZZ erklärt der Berner Islamwissenschaftler Reinhard Schulze, warum sich der Hass der extremistischen Sunniten so sehr gegen eine der kleinsten religiösen Minderheiten im Irak richtet: "Soweit heute rekonstruierbar, gründet die Religion auf einer Islamisierung alter lokaler Kulte, die mit der Symbolisierung Gottes in der Gestalt des Pfaus verknüpft war.  (...) Für muslimische Orthodoxe stellte die Tradition der Yezidi, Malak Ta'us als Pfau abzubilden und in Form einer Statue zu verehren, die Sünde der 'Beigesellung' - einer Abweichung vom strikt monotheistischen Gottesbild - und damit das größte Vergehen gegenüber Gott dar. Zudem wurde die Religionsgemeinschaft vor allem wegen ihrer Anschauungen über die Seelenwanderung und die Reinkarnation mit extremen schiitischen Denkschulen identifiziert, die aus der Sicht fundamentalistischer Sunniten eine 'geschlossene Gemeinschaft des Unglaubens' bilden. Diese Herleitung der Yezidi aus der Schia ist jedoch unzutreffend und gehört zu den großen sunnitischen Mythen im Irak."

Themen der Woche

René Girard und der Sündenbock

In der FAZ-Kolumne "Blick in deutsche Zeitschriften" referiert Ingeborg Harms ein Gespräch in "Sinn und Form" zwischen dem  Innsbrucker Professor für Christliche Gesellschaftslehre Wolfgang Palaver und dem Religionstheoretiker René Girard, in dem letzterer noch einmal seine Theorie des "Sündenbocks" erläutert: "Für den in Stanford lehrenden Franzosen sind Religionen 'Siege über die Gewalttätigkeit', schon das heidnische Opferritual ist eine aggressionsableitende Technik. Doch erst der jüdisch-christliche Monotheismus habe das 'Rätsel' des Sündenbocks und damit das der menschlichen Grausamkeit gelöst, indem er von der Perspektive der Täter auf die des Opfers umschaltete: Der vom mordlustigen Mob umstellte Erzähler der alttestamentarischen Psalmen darf als Sündenbock zum ersten Mal in der Geschichte 'gegen sein Schicksal toben'."

FAZ, 18.8.

Vereinbarkeit von Bibel und Evolutionstheorie

In der FAZ erläutert der Theologe Christian Link, wie sich die Bibel mit der Evolutionstheorie vereinbaren und deshalb der Kreationismus vermeiden lässt: "Dass die Annahme einer schrittweisen Entwicklung der Welt, insbesondere der Gattungen und Arten alles Lebendigen, dem Freien Handeln Gottes nicht widerspricht, ihn als Schöpfer des Universums nicht in Frage stellt, wird heute nahezu von allen Theologen mühelos zugestanden. Man lernt die Evolutionstheorie als das Konzept einer Welt zu verstehen, die allezeit im Werden begriffen ist, das heißt als das Angebot einer 'Theorie der Geschichtlichkeit der Natur' (Günter Altner), die deterministische ('deistische') Erklärungsmodelle grundsätzlich hinter sich lässt. Damit ändert sich zwangsläufig die Richtung der Frage nach Gott."

FAZ, 18.8.

Bildstrategien des Terrorismus

Auf der Geisteswissenschaften-Seite der FAZ referiert Wolfgang Krischke einen Aufsatz der Historikerin Petra Terhoeven mit dem Titel "Opferbilder - Täterbilder. Die Fotografie als Medium linksterroristischer Selbstermächtigung in Deutschland und Italien während der siebziger Jahre", in dem diese die Bildstrategien der Roten Brigaden und der RAF analysiert: "Die RAF hatte zunächst auf Bilder verzichtet und sich auf die verbale Kommunikation beschränkt - eine heute 'restlos antiquiert' wirkende Strategie, wie Astrid Proll rückblickend meinte. Doch im Zuge der Schleyer-Entführung setzten die RAF-Leute nicht nur den Fotoapparat, sondern auch - erstmals in der Geschichte des europäischen Linksterrorismus - eine Videokamera ein, die zudem über eine Tonspur verfügte. Die Bilder, die sie machten, brannten sich zwar in das visuelle Gedächtnis der Zeitgenossen ein, doch den gewünschten Erfolg erzielten sie nicht. Der gebrochen wirkende Schleyer, im Unterhemd, mit dem Plakat 'Gefangener der R.A.F.' vor sich, stärkte bei deutschen Politikern die Entschlossenheit, den Forderungen der Entführer nicht nachzugeben."

FAZ, 15.8.

Kunsthistoriker Thomas Gaethgens wird neuer Direktor des Getty Research Institute

Der deutsche Kunsthistoriker Thomas Gaethgens wird neuer Leiter des Getty Research Institute in Los Angeles, einer der angesehensten und reichsten Forschungseinrichtungen für Kunst. In der FAZ porträtiert Henning Ritter zunächst den neuen Direktor und erklärt, wie er sich für den Posten qualifiziert hat: "Gaehtgens, der sechsundzwanzig Jahre an der Berliner Freien Universität gelehrt hat, wäre sicherlich nicht in das Visier des Getty-Präsidenten Jim Wood geraten, der ihn vor vier Wochen mit dem Angebot überraschte, wenn er nicht seit 1997 mit der Gründung und Etablierung des Deutschen Forums für Kunstgeschichte in Paris eine Bravourleistung vollbracht hätte. In Paris ein deutsch-französisches Institut für Kunstgeschichte zu etablieren, dessen Umrisse sich nicht einmal in den Kaminträumereien deutsch-französischer Vermittler abgezeichnet hatten, ist schon als Leistung institutioneller Phantasie bemerkenswert." In der FAZ vom 17.8. folgt dann noch ein Interview mit Gaethgens.

FAZ, 15.8. (Porträt) & 17.8. (Interview)

Historiker debattieren über die Geschichte der Sklaverei

In der SZ berichtet der Afrika-Historiker Andreas Eckert über heftigen Streit in der Geschichtswissenschaft um das Thema Sklaverei: "Voll entbrannt ist die Debatte über Sklavenhandel und Erinnerung in Afrika unter den akademischen Historikern. Die intensivste Auseinandersetzung entspann sich um die vor der Küste Senegals gelegene Insel Gorée, den ersten offiziellen Gedenkort des Sklavenhandels in Afrika. Von der Unesco bereits 1978 zum Weltkulturerbe erklärt, wurde die Insel von zahllosen Prominenten wie Bill Clinton oder Papst Johannes Paul II. besucht, die damit an die Zwangsverschleppung von Afrikanern in die 'Neue Welt' erinnerten. Doch vor rund zehn Jahren stellten einige amerikanische und französische Historiker die durchaus gut fundierte These auf, dass Gorée zumindest quantitativ niemals eine bedeutende Rolle für den transatlantischen Sklavenhandel gespielt habe. Daraufhin wurden diese Historiker von der senegalesischen Presse mit Holocaust-Leugnern verglichen."

SZ, 20.8.

Zum Tod des Philosophen Michael Frede

In der FAZ schreibt Thomas Poiss einen Nachruf auf den bedeutenden Antike-Philosophen Michael Frede: "Den Ruhm, einer der luzidesten Interpreten antiker Philosophie zu sein, erwarb sich der 1940 in Berlin geborene Michael Frede schon früh. 1967 erschien seine in Göttingen bei Günther Patzig geschriebene Dissertation 'Prädikation und Existenzaussage', hundert Seiten über Platons Dialog 'Sophistes', die zu den meistkopierten aller Institutsbibliotheken gehören: ein Wunder ebenso kluger wie nicht gewaltsamer Rekonstruktion."

FAZ, 18.8.

Zur Geschichte der Polarreisen

In der NZZ findet sich ein Aufsatz des Kulturwissenschaftlers Thomas Macho über die Geschichte der Polarexpeditionen, die, wie er herausarbeitet, vielfältigen Zwecken und Interessen gehorchten: "Gute Gründe motivierten also den Aufbruch zum Pol: die Demonstration von Macht und Prestige, die Suche nach neuen Seewegen, Ressourcen und Bodenschätzen, das militärische Interesse am Training der Truppen, das wissenschaftliche Bedürfnis nach einer Komplettierung der Weltkarten ohne weisse Flecken, ganz abgesehen von den inspirierenden Fragen meteorologischer, ethnologischer, psychologischer oder medizinischer Forschung. Alle diese konkreten Motive wurden jedoch stets überlagert von den Imaginationen der Literatur, von kollektiven Phantasien, Ängsten und Wünschen."

Bücher und Rezensionen

Gleich zwei neue Bücher des Kunsthistorikers Nils Büttner über Peter Paul Rubens hat Konrad Renger in der SZ mit großen Gewinn gelesen. Zum einen Büttners Habilitation, die den Weg des Künstlers zu Ruhm und Reichtum entwirft: "'Ruhm entsteht durch Zuschreibung' ist die verblüffende These des originellen Buches von Nils Büttner, in dem er das 'Bild von Rubens' ökonomischer und sozialer Existenz' entwirft und sich dafür auf zahlreiche bisher unbekannte Archivalien sowie neue Interpretationen bekannter Dokumente stützt, die ein neues Licht auf Peter Paul Rubens' Person werfen." Und zum anderen eine knappe Monografie, die kaum Wünsche offen lasse: "Auf nicht einmal 100 gut lesbaren Seiten Text spricht Büttner überschaubar alle Facetten von Rubens' Persönlichkeit und Kunst an. Bei der oft gestellten Frage nach 'dem' Rubens-Buch musste man bislang passen - dies wäre wieder eins."

SZ, 20.8.

Hellauf begeistert zeigt sich Helmut Mayer in der FAZ von einer drei Bände umfassenden Reihe des Meiner Verlags. Es werden darin in wissenschaftshistorischer Perspektive jeweils eine der großen Wissenschaftsdebatten des 19. Jahrhunderts dargestellt, nämlich die "Darwinismus"-Debatte, die "Materialismus"-Debatte und die sogenannte "Ignorabimus"-Debatte, in der es um die Frage grundsätzlicher Grenzen unseres Wissens ging. Mayer resümiert: "Der Rückblick auf diese Debatten, mit denen unsere naturwissenschaftlich geprägte Moderne begann, ersetzt keine Argumente. Aber zur Vorsicht kann er mahnen. Denn es könnte ja sein, dass man über den großen Fronten jene kleinen, aber kontinuierlichen Verschiebungen vernachlässigt, mit denen die Konturen unseres Menschenbildes sich im Zeitalter der neuen biowissenschaftlichen Verfügbarkeiten auf viel unspektakulärere, doch stetige Weise verändern. Um 'den' freien Willen brauchen wir uns wohl nicht zu sorgen, um seine zukünftigen Entscheidungsspielräume aber schon."

FAZ, 20.8.

Konfernzen und Tagungen

Intellektuelle Salbung von Katharina Wagner durch die Wissenschaft

In der Welt fasst Alexander Cammann eine die Festspiele begleitende Konferenz in Bayreuth wie folgt zusammen: "An zwei Tagen diskutierte die hochkarätig besetzte Runde aus Theater- und Musikwissenschaftlern, Politologen, Historikern und Literaturwissenschaftlern über das Werk Richard Wagners im Wandel der Zeiten, vor allem am Beispiel seiner 'Meistersinger'. Zwar schreckte der sperrige Titel 'Angst vor der Zerstörung. Der Meister Künste zwischen Archiv und Erneuerung' und die Aussicht auf noch mehr venengefährdendes Dauersitzen den gewöhnlichen Festspielbesucher ab. Doch er verpasste weniger die Zerstörung als vielmehr die Erneuerung der Bayreuther Substanz in anspruchsvollen Debatten - und vor allem die intellektuelle Salbung der abwesenden Katharina Wagner durch die Wissenschaft."


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