Wissenschaftsjahr 2007 - 05.09. - 11.09.2007

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05.09. - 11.09.2007

Im Blickpunkt

Elitewettbewerb besser auf Geisteswissenschaften zuschneiden

Alles andere als eitel Freude herrschte, wie Amory Burchard im Tagesspiegel mitteilt, bei der Feier zum 50. Geburtstag des Wissenschaftsrats in Berlin. Der forcierte Elitewettbewerb wird offenkundig vor allem von geisteswissenschaftlicher Seite recht kritisch gesehen: "Bundespräsident Horst Köhler mahnte den Wissenschaftsrat in seinem Grußwort, darüber nachzudenken, 'wie wir für alle Hochschulen den Anreiz erhalten, die eigenen Stärken auszubauen'. In künftigen Wettbewerben sollten die Exzellenzkriterien passgenauer für die Geisteswissenschaften sein, auch die Lehre sollte eine Rolle spielen. Auch Wolfgang Frühwald, Germanist und Wissenschaftsmanager, warnte vor den Folgen des Wettbewerbsförderalismus, der durch den Elitewettbewerb und die Föderalismusreform in Gang gesetzt werde. Die Universitäten dürften 'nicht nur als Trainingslager für Spitzenforschung' betrachtet werden, 'sondern auch als Ausbildungsstätten für anspruchsvolle, auf wissenschaftliche Methoden und Kenntnisse gründende Berufe'."

Verhältnis von Philosophie und Empirie

In der Tagesspiegel-Serie, in der Geisteswissenschaftler über Gegenstände ihrer aktuellen Forschung berichten, denkt der Philosoph Daniel Perler grundsätzlich über das Verhältnis von Philosophie und empirischer Forschung nach: "Worin besteht also die Aufgabe der Philosophie? Sicherlich nicht darin, dass sie den Anspruch auf Begriffsklärung aufgibt und selber nach empirischen Daten jagt. Aber auch nicht darin, dass sie im Elfenbeinturm bloß über die eigene Verwendung von Begriffen nachdenkt. Philosophische Analysen sind dann spannend und innovativ, wenn sie von empirischen Befunden der Nachbarwissenschaften ausgehen, Begriffe mit Blick auf diese Befunde testen und innerhalb von historisch gewachsenen Theorien situieren."

Themen der Woche

Die Stimmen der Völker: Das Berliner Lautarchiv

Auf der Geisteswissenschaften-Seite der FAZ informiert Reinhart Meyer-Kalkus über das im Wilhelminismus gegründete Berliner Lautarchiv, das als Grundlage für sprachwissenschaftliche Forschungen dienen sollte - freilich dann doch kaum diente: "Der Initiator des Lautarchivs, der Sprachwissenschaftler und Geschäftsmann Wilhelm Doegen, mochte von einem Museum der Stimmen der Völker träumen, von einer Leistung, die den Kriegsgegnern zeigte, dass Deutschland seiner Kulturmission auch in Kriegszeiten treu blieb und sie mit überlegenen technischen Mitteln durchführte. Dafür hatte er dank seiner politischen Verbindungen während des Ersten Weltkriegs auch Unterstützung in den preußischen Ministerien gefunden. Allerdings wurde das gehortete Material von den Sprachwissenschaftlern, die die Aufnahmen überwachten, niemals ausgewertet, von wenigen Ausnahmen wie dem Anglisten Alois Brandl abgesehen."

FAZ, 5.9.

Fünfzig Jahre Militärgeschichtliches Forschungsamt

Für die Welt hat sich Sven Felix Kellerhoff mit dem Leiter des Militärgeschichten Forschungsamtes, dem Historiker und Oberst Hans Ehlert unterhalten. Der Anlass ist das fünfzigjährige Bestehen des Amtes, dessen Bezug zur Geschichteswissenschaft Ehlert erläutert: "Das grundsätzlich Neue, das Abweichende von der klassischen Generalstabshistorie war ja, dass sich das MGFA nicht nur mit Kriegen und Feldzügen beschäftigt hat und beschäftigt, sondern mit dem Militär und dem Soldaten in allen seinen Beziehungen - zur Gesellschaft, zur Wirtschaft, zum Umland und so weiter. Wir haben zum Beispiel mit geschichtswissenschaftlichen Methoden untersucht, welche Bedeutung eine Garnison für den entsprechenden Landkreis hat, etwa am Beispiel einer Garnison wie Oberviechtach. Das kann man natürlich "sozialhistorisch" nennen, aber für mich ist das keine Fehlentwicklung. Wenn die Militärgeschichte eine Teildisziplin der allgemeinen Geschichtswissenschaft ist, dann muss sie auch reagieren auf Trends in dieser Wissenschaft. Das gilt für Sozialgeschichte, für Kulturgeschichte und ähnliches."

Freizeit im Faschismus

Harry Nutt schreibt in der FR über eine in der riesigen KdF-Tourismus-Anlage in Prora auf Rügen gezeigte Ausstellung zu "Freizeit im Faschismus". Er findet sie überzeugend und hält sie für auf dem Stand der aktuellen Forschung: "Die Ausstellung in Prora zeigt trotz ihrer darstellerischen Beschränkung anschaulich, wie in den faschistischen Bewegungen die auf den ersten Blick gegenläufigen Bedürfnisse von Individualisierung und Massenbildung ineinander greifen. Die Instrumentalisierung der Freizeit im Faschismus war kein geradliniger Prozess. Die italienischen Faschisten waren sich zum Beispiel immer dessen bewusst, dass sie sich der stark ausgeprägten proletarischen Kultur nie vollständig bemächtigen konnten. Und KdF deckte die deutsche Freizeitindustrie nicht vollständig ab. Gegen den preiswerten nationalsozialistischen Gruppentourismus, der auch ans und aufs Wasser führte, entwickelte sich ein gehobener Individualtourismus, der verlorene Marktanteile zurückeroberte."

Bücher und Rezensionen

Sehr gut gefallen haben Gregor Dotzauer im Tagesspiegel die unter dem Titel "Anders gesagt" erschienenen Überlegungen des Lausanner Literaturwissenschaftlers Peter Utz zum literarischen Übersetzen: "Utz rührt mit seinen englischen und französischen Übersetzungslektüren von E.T.A. Hoffmann, Fontane, Kafka und besonders Robert Musil ans dialektische Herz aller Fragen zu Identität und Differenz – und das mit einer raffiniert spitzfindigen Eleganz, die Sprachvertrauen und Sprachskepsis auch nur als zwei Seiten derselben Sache ausweist. Utz stößt dabei nicht die pragmatisch vernünftige Hierarchie von Original und Übersetzung um, aber er dringt in die Lücke vor, die jeder Text zwischen Wortlaut und Verstehen lässt. Es gibt, so zeigt er, schon in einer gegebenen Sprache kein reines, den Sinngehalt eines Texts vollständig ausschöpfendes Lesen, sondern zwangsläufig immer nur Interpretationen."

Gleich zwei neue Bücher mit Texten von Jacques Derrida bespricht in der SZ Klaus Englert, der die Vielseitigkeit wie die politische Dimension des Denkens von Jacques Derrida herausstreicht: "Die Dekonstruktion sollte sich ja als ein kritisches Denken bewähren, als ein Denken, das nicht nur in Frage stellt, sondern gleichsam auf die Praxis übergreift und die Herausbildung neuer institutioneller Formen begünstigt. Wenn "Maschinen Papier" neben einem Vortrag über Paul de Mans Rousseau-Lektüre auch einen offenen Brief an den US-Präsidenten Bill Clinton enthält, in dem sich der Philosoph im Auftrag des Internationalen Schriftstellerparlaments gegen die Todesstrafe für den schwarzen Bürgerrechtler und Journalisten Mumia-Abu Jamal ausspricht, dann hat dies einen plausiblen Grund: In der eigenen Theorie waren immer auch die politischen Implikationen lesbar, während die politische Praxis die aufklärerischen Ideen von Demokratie und Gerechtigkeit transparent machen sollte."

SZ, 8.9.

Konferenzen und Tagungen

Günter Grass in internationaler Perspektive

In Liverpool fand eine internationale Tagung zum Werk von Günter Grass statt. Gina Thomas, die sich für die FAZ die Vorträge angehört hat, erklärt auch gleich, was "international" in diesem Fall zu bedeuten hatte: "Die Behauptung von Volker Neuhaus, dass es in Deutschland aufgrund der 'schrecklichen öffentlichen Unterschätzung' des Schriftstellers undenkbar wäre, so viele Grass-Forscher zu versammeln wie jetzt an der Universität Liverpool, schließt sich der wehleidigen Selbstwahrnehmung des Nobelpreisträgers als einen auswärts mehr als im eigenen Land geachteten Autor an. So zweifelhaft diese Stilisierung angesichts der Aufmerksamkeit anmutet, welche die deutschen Medien jeder Äußerung von Grass schenken, war in Liverpool bei der Tagung 'Die Nation verändern: Günter Grass aus internationaler Perspektive' augenfällig, dass der Kölner Literaturwissenschaftler und Herausgeber der Grass-Werkausgaben als einziger Vertreter der deutschen Universitäten auf dem Podium saß. Die Referenten kamen aus Kingston, Ontario und Lissabon, aus Kansas, Valparaiso und Modena, aus Cambridge, New South Wales und Perth, um Werk und Rolle des politisch engagierten Schriftstellers aus historischer, literaturtheoretischer und biographischer Sicht zu beleuchten."

FAZ, 10.9.

Zur "Politik der Angst" im Kalten Krieg

Das Hamburger Institut für Sozialforschung (HIS) veranstaltete eine Tagung zum Thema "Politik der Angst". Ines Kappert berichtet für die taz: "Bernd Greiner, der die Forschungsstelle 'Theorie und Geschichte der Gewalt' am HIS leitet, lud vor allem KollegInnen ein, die sich mit den USA und Deutschland beschäftigen - das östliche Europa, Japan und China blieben ausgespart. Insofern fand der Umgang mit der Angst vor einem Nuklearschlag, weder in Polen, der Tschechoslowakei oder Ungarn noch in der so genannten Dritten Welt Berücksichtigung - also immerhin dort, wo die Stellvertreterkriege ausgetragen worden sind. So ganz ist der Eiserne Vorhang, der den Westen zum Nabel der humanen Welt erklärt, eben doch noch nicht Geschichte."

Für die Süddeutsche war Willi Winkler auf der Tagung zugegen. Kaum ein Referent aus Amerika, berichtet er, konnte sich den Hinweis auf Parallelen zwischen Kaltem Krieg und der Gegenwart unter Bush verkneifen. Aber auch Historisches wird referiert: "Monique Scheer (Tübingen) berichtete, dass es nie so viele Marienerscheinungen gab wie in der Mitte des 20. Jahrhunderts. Zumindest bei den Katholiken wurde die Jungfrau Maria in den politischen Dienst genommen, um die Furcht vor dem Kommunismus zu schüren und im Marienkult zugleich ein Heilmittel gegen diese Irrlehre anzubieten."

Süddeutsche, 10.9.


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