Wissenschaftsjahr 2007 - 10.10. - 16.10.2007

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10.10. - 16.10.2007

Im Blickpunkt

Friedenspreis für Historiker Saul Friedländer

Am Sonntag erhielt der Historiker Saul Friedländer den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels. Die Feuilletons lieferten Rundumberichterstattung. Hier ein  Überblick. In der Zeit nimmt der am Hamburger Institut für Sozialforschung arbeitende Michael Wildt den Forscher gegen ein Missverständnis in Schutz: "Friedländer hat eben nicht, wie [Martin] Broszat den jüdischen Historikern unterstellte, Erinnerung als Kultur der steten Vergegenwärtigung der Vergangenheit verstanden, nicht Erinnerung an die Stelle von Wissen gesetzt. Vielmehr gelingt es Friedländer mit seiner Form der Darstellung, mit dem literarischen Stil seiner Geschichtsschreibung, Wissen und Erinnerung miteinander in Beziehung zu setzen, eine umfassende Textur zu weben, in der die einzelnen Fäden erhalten bleiben - strenge Wissenschaft als hohe Kunst."
Für die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung hat Johanna Adorjàn ein Interview mit Friedländer geführt, in dem er vor heutigen Fundamentalismen warnt: "Wenn man sich die Welt heute ansieht, sind es nicht mehr die säkularen Ideologien - Kommunismus, Nationalismus, Faschismus -, die größte Gefahr geht von religiösen Fundamentalisten aus."
Im Tagesspiegel-Interview mit Gerrit Bartels hält Friedländer fest: "Bei einem Vortrag, den ich an einer Universität in den USA gehalten habe, stellte jemand die Frage, ob man nach dem Holocaust, nach so etwas Extremem und Schrecklichem, ein neues Menschenbild entwerfen müsse. Ich glaube, dass diese Frage richtig ist, ich kann sie jedoch nicht beantworten."
Auszüge aus der Friedenspreisrede druckt die Welt. In ihren Berichten über die Verleihung kommentieren Patrick Bahners in der FAZ, Joachim Güntner in der NZZ, Harry Nutt in der FR und Uwe Wittstock in der Welt Friedländers Rede.
Zeit, 11.10.


FAZ, 15.10.

Verlag der Weltreligionen

Mit einiger Spannung erwartet wurde das Programm des Suhrkamp-Imprints "Verlag der Weltreligionen", in dem historisch-kritische Ausgaben wichtiger Werke der Weltreligionen erscheinen sollen. Die Befürchtungen, die Suhrkamp-Kultur könnte nun im affirmativen Sinne auf die Religion gekommen sein, scheinen sich aber schnell zerstreut zu haben.
So stellt Arno Widmann in der FR fest: "Der 'Verlag der Weltreligionen' wird der deutschen Öffentlichkeit die wichtigsten Texte der religiösen Weltliteratur in - hoffentlich immer - hervorragenden Editionen zur Verfügung stellen. Das wird uns reizen, sie zu lesen. Es wird ganz sicher unser Interesse an Religion, an der Auseinandersetzung mit ihr fördern. Es wird aber wahrscheinlich kein Beitrag zur Steigerung der Religiosität sein."
In der Welt äußert sich Uwe Wittstock mehr als nur anerkennend: "Die Gründung des Verlags der Weltreligionen (VDWR) ist eine verlegerische Großtat. Man muss nicht fromm sein, um das zu erkennen. Ein Verlag, der es sich zur Aufgabe macht, die schriftlichen Grundlagen der Religionen nach den strengen Regeln der Philologie zu publizieren, sie von exzellenten Fachleuten übersetzen, edieren, erforschen und schließlich mit allgemeinverständlichen Einführungen versehen zu lassen, verdient hohen Respekt."
In der FAZ hat sich Helmut Mayer das erste Verlagsprogramm angesehen.


FAZ, 10.10.

Themen der Woche

Industrielle Revolution durch Genvorteil

Im Interview mit der SZ verteidigt der Wirtschaftshistoriker Gregory Clark seine Thesen, dass die industrielle Revolution möglicherweise auch auf einem genetischen Vorsprung des englischen Mittelstands beruhte: "Wir wissen, dass die englische Bevölkerung seit 1200 kaum anstieg. Deshalb konnte jede Familie im Schnitt kaum mehr als zwei Kinder haben. Der Mittelstand aber - Händler, große Bauern, wohlhabende Handwerker - hatte im Schnitt vier oder fünf Kinder, die überlebten. Die Armen hatten weniger als zwei Nachkommen. Der Adel konnte mit dem wohlhabenden Mittelstand auch nicht mithalten, wie ich in langjährigen Archivstudien feststellen konnte. Die zahlreichen Kinder dieser Reichen konnten aber nicht in ihrer Schicht bleiben, weil die Ressourcen nicht ausreichten - also stiegen sie sozial ab und verdrängten dort die Armen. Und mit ihnen breiteten sich die bürgerlichen Werte aus - etwa Geduld, Tüchtigkeit, geringe Gewaltbereitschaft, harte Arbeit, Sparsamkeit statt Konsum."
SZ, 12.10.

Briefwechsel zwischen Carl Justi und Wilhelm Bode

Sehr ausführlich stellt die Kunsthistorikern Karin Hellwig in der NZZ den Briefwechsel zwischen Carl Justi und Wilhelm Bode vor, den führenden Kunsthistorikern des deutschen Kaiserreichs. Hellwig arbeitet gerade an einer historisch-kritischen Ausgabe dieses Briefwechsels: "Über kunsthistorische Texte und Archivalien zur Geschichte der Institutionen hinaus bilden Selbstzeugnisse wie Briefe, Autobiografien, Reiseberichte und Tagebücher eine unentbehrliche Grundlage für die Erforschung der Fach- und Methodengeschichte [...] Die Korrespondenz zwischen Justi und Bode erlaubt einen Einblick in die wechselvolle Geschichte des Faches Kunstgeschichte aus der Perspektive zweier außergewöhnlicher Gelehrter."


Dem Kunsthistoriker Martin Warnke zum Siebzigsten

Der Kunsthistoriker Martin Warnke feiert seinen siebzigsten Geburtstag. In der SZ würdigt ihn Willibald Sauerländer: "Warnkes Darlegungen sind weit entfernt von einer Kunstsoziologie, die in bildnerischen Formen nur die Widerspiegelung von Klassengegensätzen sieht. Er zeigt, wie Kunst im Raum der Institutionen ihre Phantasie und gestalterische Souveränität entfaltet. In seinen Büchern über zwei große Hofkünstler - Rubens und Velàzquez - hat er dieses Wechselverhältnis von Bindung und Freiheit exemplarisch geschildert. Aber das Problem ist virulent bis in unsere Tage. Warnke ist skeptisch gegen eine Museumspolitik, welche sich der Verpflichtung zur prüfenden Distanz entledigt und vor der schöpferischen Freiheit kritiklos kapituliert."
In der FAZ bewundert Henning Ritter die Lebensleistung Warnkes: "Er hat vielleicht noch nicht alles erreicht, was er sich vorgenommen hat. Jedenfalls aber das, was ein Kunsthistoriker seiner Generation erreichen konnte. Er hat zuerst aufgeräumt. Seine Sprachkritik an der Kunstgeschichtsschreibung der Generation der Väter ist Ende der sechziger Jahre von den Jüngeren als befreiend erlebt worden. Sie hat ihn selbst allerdings zu einer gewissen sprachlichen Askese verpflichtet, zu einer Nüchternheit, die freilich seinem Temperament entgegenkam."
SZ, 12.10.
FAZ, 12.10.

Homers Werke historisch betrachtet: unmöglich

Hellmut Flashar gratuliert in der SZ dem Gräzisten Wolfgang Kullmann zum Achtzigsten - und erläutert dessen umstrittene Zentralthese: '"Homers großartiges Gemälde ist historisch betrachtet eine Unmöglichkeit'; oder: man käme 'vom Homertext her niemals auf den Gedanken, von einer mykenischen Zeit zu sprechen' - solche Urteile behalten für Wolfgang Kullmann auch in seinen neueren Publikationen ihre Gültigkeit. [...] Das alles ist heute nach wie vor umstritten: Wolfgang Kullmann, der Schüler von Wolfgang Schadewaldt, ist mit seiner stringenten und konsequenten Position in jedem Fall einer der international anerkanntesten Homer-Forscher."
SZ, 12.10.


Bücher und Rezensionen

Der Romanist Harald Weinrich legt unter dem Titel "Wie zivilisiert ist der Teufel?" einen Sammelband mit Aufsätzen und Essays vor. Die Feuilletons sind beeindruckt.
Burkhard Müller rühmt in der SZ: "Harald Weinrich, der vor kurzem seinen achtzigsten Geburtstag gefeiert hat, ist von Haus aus Romanist; was er aber tatsächlich treibt, bei nur geringem  Übergewicht französischer Gegenstände, ist eine umfassende Geistesgeschichte. Der Begriff der Geistesgeschichte erfreut sich heute nur geringer Beliebtheit. Dem 'Geist' überhaupt schlägt ein Misstrauen entgegen, das die Geisteswissenschaft ganz allgemein auszubaden hat (obwohl man doch ihr Jahr schreibt) und das sie in Selbstzweifel und Beschämung stürzt: Als ob sie vor dem Familiennamen der "Wissenschaft" einen besonders altmodisch albernen Vornamen führte, den man, wo man sich vorzustellen hat, am besten nur nuschelnd mitspricht."
Und in der Literaturbeilage der FAZ rühmt auch Andreas Platthaus den Universalgelehrten Weinrich: "So ist das Buch auch kein rein romanistisches Werk, sondern ein universalwissenschaftliches, das von der immensen Verstandesschärfe seines Autors kündet. Der literaturwissenschaftliche Malus der Neuzeit, die durch die Etablierung des Buchmarkts 'die Leser zunehmend von der intensiven zur extensiven Lektüre umgeschult hat', wie Weinrich kühl feststellt, wird in seinem eigenen Schreiben zum kulturgeschichtlichen Bonus, denn was für ein Segen ist es, solch universal belesene Gelehrte zu haben."
SZ, 12.10.
FAZ, 10.10.

Der neue Band "Wie Bilder Sinn erzeugen" des Kunstwissenschaftlers Gottfried Boehm ist von Interesse über das Buch selbst hinaus. Er erscheint nämlich zum Auftakt des neuen, von Gottfried Honnefelder geleiteten Verlags "Berlin University Press". In der NZZ stellt Bernd Stiegler Boehms Aufsatzsammlung in diesem Kontext vor: "Die dezidierte wie programmatische Absetzung von der Sprache ist der rote Faden dieses Bandes. Es geht darum, Bilder als 'Logos', als 'sinnstiftenden Akt' neu zu denken und sie zugleich als tragende Voraussetzungen unserer Kultur zu profilieren. Die Sprache in Gadamers Formulierung wird zum 'Logos', und dieser wiederum zeichnet sich durch das Prinzip einer 'ikonischen Differenz' aus, durch die Sinn entsteht."
NZZ, 11.10.


Konferenzen und Tagungen

Der George-Kreis der Rechtsstaatspatrioten

Auf einer Frankfurter Tagung zum George-Kreis, von der Martin Otto für die FAZ berichtet, wurden interessante Ansichten wie diese geäußert: "'Rechtsstaatspatrioten' seien die Männer des 20. Juli in jedem Falle gewesen. Eine Schuld am Scheitern der Weimarer Republik trage der George-Kreis nicht; dafür seien Ernst Jünger und Kurt Tucholsky und deren Ungeduld mit der parlamentarischen Demokratie verantwortlich zu machen."
FAZ, 13.10.

Die Lichtung der Theorie

Ebenfalls in der FAZ referiert Thomas Thiel ein poetisches Bild von Vergangenheit und Gegenwart der Wissenschaftsgeschichte: "Der Wuppertaler Wissenschafts-, Technik- und Ideenhistoriker Friedrich Steinle wählte für den diesjährigen Kongress der Gesellschaft für Wissenschafts-, Technik- und Medizingeschichte den Titel 'Praxis der Theorie'. Er stellte die Geschichten, die dort erzählt wurden, mit diesem Titel ausdrücklich in den Kontext der Grundlagenversicherung, einer denkbaren Öffnung und Rückkehrbereitschaft seiner Disziplin. Aus dem Gestrüpp der Praxis, in das sich die Wissenschaftsgeschichtenerzählung in den vergangenen zwei Jahrzehnten begeben hatte - sie nannte es 'practical turn' -, dürfe sie sich, wenn es ihr angelegen erscheine, wieder auf die Lichtung der Theorie begeben, ihre heiteren Anhšhen beschreiten, um dann zu erkennen, dass der Gipfel keinen Ruhepunkt bietet, sondern nur einen weiteren Ausblick öffnet auf einen immer ferner lagernden letzten gemeinsamen Horizont."
FAZ, 10.10.2007


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