Die Neuverhandlung unserer Beziehungen mit Natur - Wissenschaftsjahr 2020/21 - Bioökonomie

Springe zu:

Springe zum Inhalt

02.10.2020

Die Neuverhandlung unserer Beziehungen mit Natur

Kurz & Knapp
  • Wie der Wandel hin zu biobasierten Produktions- und Lebensweisen verläuft, hängt stark von den Mentalitäten – Vorstellungen, Haltungen und Erwartungen – der verschiedenen sozialen Gruppen in der Gesellschaft ab.
  • Die Naturverhältnisse moderner westlicher Gesellschaften sind geprägt von der dauerhaften, praktisch unbegrenzten Verfügbarkeit fossiler Energiequellen und Grundstoffe (Kohle, Öl und Gas).
  • Wenn zukünftig biobasiert gewirtschaftet wird, werden sich auch Mentalitäten wandeln müssen. Dies wird auch mit Konflikten einhergehen. Sozial-ökologische Mentalitätsforschung kann zum Verständnis dieser Auseinandersetzungen beitragen.

Die Neuverhandlung unserer Beziehungen mit Natur

Ein Beitrag von Dennis Eversberg, Friedrich-Schiller-Universität Jena

Jede Gesellschaft steht in einem geschichtlich entstandenen Verhältnis zur Natur. Diese Verhältnisse sind verankert in der Gestaltung ihrer materiellen Infrastrukturen (technische Anlagen, Produktionsprozesse, Transportnetzwerke), ihrer Institutionen (politische und soziale Einrichtungen und Regelwerke) sowie in den Vorstellungen, Haltungen und Erwartungen, kurz: Mentalitäten, der Menschen.

Das Naturverhältnis moderner europäischer Gesellschaften etwa hat sich auf allen drei dieser Ebenen über die letzten zwei Jahrhunderte hinweg auf die ständige und praktisch unbegrenzte Verfügbarkeit von Kohle, Öl und Gas als Energiequellen und Grundstoffen ihres Wirtschaftens ausgerichtet.

Nun wird die globale Klimakrise in den kommenden Jahrzehnten die Abkehr von diesen fossilen Ressourcen und den Übergang zu stärker auf biologischen Grundstoffen basierenden Formen des Wirtschaftens verlangen. Dies wird weitreichende gesellschaftliche Veränderungen erfordern – nicht nur auf der Ebene der technisch-materiellen Infrastrukturen, sondern auch auf der der Institutionen (z. B. Steuerrecht, Sozialstaat, Verhältnis globaler, nationaler und lokaler Politikebenen) und nicht zuletzt auf der der Mentalitäten, mit denen Menschen dem Wandel begegnen. Gerade letzteres wird in der Forschung bislang eher wenig beachtet.

Köpfe des Wandels

Dr. Dennis Eversberg ist Sozialwissenschaftler und leitet die BMBF-Nachwuchsgruppe „Mentalitäten im Fluss. Vorstellungswelten in modernen bio-kreislaufbasierten Gesellschaften (flumen)“ am Institut für Soziologie der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Seine Forschungsthemen sind u.a. Mentalitäts- und Sozialstrukturforschung; Soziologie sozial-ökologischer Bewegungen; soziale Naturbeziehungen; sozial-ökologische Transformationen und Konflikte.

Mentalitätswandel in bio-basierten Transformationen

Mentalitäten entstehen aus der Erfahrung, die Einzelne und soziale Gruppen mit der gesellschaftlichen und natürlichen Welt machen, und sie prägen sich als dauerhafte Gewohnheiten des Wahrnehmens, Empfindens und Handelns – die Soziologie spricht von Habitus – in den Körper ein. Deshalb verändern sie sich auch nicht von selbst, wenn sich die sozial-ökologischen Bedingungen des Lebens ändern, sondern sie passen sich dem Wandel nur langsam und schrittweise an oder können auch Quelle aktiver Widerstände sein.

Die langfristige Gewöhnung an dauerhaftes Wachstum des materiellen Wohlstands und der Verfügbarkeit von Energie auf der Grundlage fossiler Ressourcen kann es zum Beispiel sehr schwer machen, sich eine Zukunft vorzustellen, in der viele Güter nicht immer und unbegrenzt, sondern stärker in Abhängigkeit von natürlichen Wachstumszyklen und begrenzten Anbaumengen der Lebewesen, aus denen sie gewonnen werden, zur Verfügung stehen. Hieran werden sich künftig voraussichtlich immer wieder soziale Konflikte entzünden, wie heute schon etwa der Widerstand gegen den Ausbau der Windkraft erahnen lässt.

Soziale Naturbeziehungen: Die Auseinandersetzungen verstehen

In unserer Forschung in der BMBF-Nachwuchsgruppe „Mentalitäten im Fluss“ (flumen) an der Universität Jena interessieren wir uns für die unterschiedlichen Mentalitäten und die unterschiedlichen Formen der sozialen Beziehungen zur Natur, die in verschiedenen sozialen Gruppen anzutreffen sind: Wie schlagen sich soziale Ungleichheiten und Machtverhältnisse, Geschlechter- und Altersunterschiede, Stadt-Land-Verhältnisse und andere Unterschiede der Erfahrungswelten in verschiedenen Mentalitäten nieder? Welche verschiedenen praktischen Umgangsweisen mit Natur (oder Lebensweisen) gehen damit einher, und was bedeutet dies für die kommenden Auseinandersetzungen um Veränderungen gesellschaftlicher Naturverhältnisse im Zeichen einer biobasierten Transformation?

An lokalen Fallbeispielen aus verschiedenen europäischen Ländern und mit einer repräsentativen Umfrage unter der deutschen Bevölkerung wollen wir verstehen, wie Auseinandersetzungen um verschiedene Formen des bio-basierten Wirtschaftens verlaufen, woran sich Konflikte entzünden und welche Visionen einer Transformation zu sozial und ökologisch dauerhaft tragfähigen Wirtschaftsweisen unter welchen Voraussetzungen künftig gesellschaftlich mehrheitsfähig werden könnten.

Die hier veröffentlichten Inhalte und Meinungen der Autorinnen und Autoren entsprechen nicht notwendigerweise der Meinung des Wissenschaftsjahres 2020/21 – Bioökonomie.​