Soziale Bewegungen für eine Agrar- und Ernährungswende - Wissenschaftsjahr 2020/21 - Bioökonomie

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23.09.2020

Soziale Bewegungen für eine Agrar- und Ernährungswende

Kurz & Knapp
  • Die BMBF-Nachwuchsgruppe Food for Justice: Power, Politics, and Food Inequalities in a Bioeconomy untersucht die komplexe Verwobenheit von politischen Strategien der Bioökonomie und den sozialen Bewegungen, die sich für eine bio-basierte Produktions-, Arbeits- und Lebensweise in Deutschland und Brasilien einsetzen.
  • Soziale Bewegungen, wie die Wir haben es satt!-Demonstration von Meine Landwirtschaft fordern eine Agrar- und Ernährungswende, die sich mit den Ideen und Zielen von staatlichen Bioökonomie-Strategien überschneiden, auch wenn sich die Wege, diese Ziele zu erreichen stark unterscheiden.
  • Erfolgreiche Forschungs- und Politikstrategien für eine nachhaltige Bioökonomie würden davon profitieren, die Ideen und Vorschläge aus sozialen Bewegungen stärker zu berücksichtigen.

Soziale Bewegungen für eine Agrar- und Ernährungswende

Ein Beitrag von Renata C. Motta und Madalena Meinecke, Freie Universität Berlin

In den letzten Jahren sind Produktion, Vertrieb und Konsum von Lebensmitteln zunehmend zu einer politischen Angelegenheit geworden. Ein zentraler Bestandteil dieses Prozesses ist das Aufleben einer Bewegung, die mit Demonstrationen und ähnlichen Protestaktionen für eine Ernährungs- und Agrarwende aufruft.

Der wohl bekannteste Protest zum Thema Lebensmittel in Deutschland ist die Wir haben es satt!-Demonstration, die seit 2011 jährlich zum Auftakt der Agrarmesse Grüne Woche in Berlin von dem Bündnis Meine Landwirtschaft organisiert wird. Das Bündnis setzt sich für eine nachhaltige, faire Landwirtschaft und Lebensmittelproduktion ein und unterstützt deutschlandweit bäuerliche Betriebe.

Darüber hinaus fordert das Bündnis die Etablierung einer zukunftsfähigen Landwirtschaft und Lebensmittelproduktion durch den Wandel der Agrar- und Ernährungspolitik.

Köpfe des Wandels

Renata Motta ist Junior Professorin für Soziologie am Lateinamerika Institut der Freien Universität Berlin und Leiterin der BMBF-geförderten Nachwuchsgruppe Food for Justice: Power, Politics and Food Inequalities in a Bioeconomy. Sie ist Mitglied des Instituts für Protest- und Bewegungsforschung (ipb).

Madalena Meinecke hat einen Masterabschluss in Global Studies Programme (M.A.) von der Universität Freiburg und FLACSO Argentinien und arbeitet derzeit als Doktorandin in der BMBF-geförderten Nachwuchsgruppe Food for Justice: Power, Politics and Food Inequalities in a Bioeconomy am Lateinamerika-Institut der Freien Universität Berlin.

BMBF-Nachwuchsgruppe Food for Justice

Die BMBF-Nachwuchsgruppe Food for Justice: Power, Politics and Food Inequalities in a Bioeconomy kombiniert in ihrem Forschungsprojekt theoretische Perspektiven auf globale Ungleichheiten mit der sozialen Bewegungsforschung in Bezug auf Nahrungsmittelgerechtigkeit. Dabei untersucht sie aus einem intersektionalen Blickwinkel soziale Bewegungen zu Ernährungsgerechtigkeit (food justice movements) sowohl in Europa/Deutschland als auch in Lateinamerika/Brasilien.

Food for Justice führte bereits im August 2019 in Brasilien eine Befragung mit über 400 Frauen durch, die an der Demonstration Marcha das Margaridas teilgenommen haben.

Dieser Protest fand seit dem Jahr 2000 zum sechsten Mal statt und wird von den Landgewerkschaftsbewegungen in Kooperation mit den Agrarbewegungen und feministischer Organisationen koordiniert.

Befragung der Wir haben es satt!-Demonstration

Am 18. Januar 2020 hat Food for Justice mit dem Institut für Protest- und Bewegungsforschung eine umfassende Befragung der Beteiligten der Wir haben es satt!-Demonstration durchgeführt.

Ein Großteil der befragten DemonstrantInnen identifiziert sich als weiblich und ordnet sich politisch links der Mitte ein. Die Protestierenden sind oft stark politisch engagiert und bereits Mitglied in politischen Organisationen. Dadurch bestehen meist schon diverse Erfahrungen mit gesellschaftspolitischen Protesten zu Klima- und Umweltpolitik. Dies liegt nicht zuletzt an der sozio-ökonomischen Positionierung der Beteiligten: die allermeisten haben Universitätsabschlüsse und ein mittleres bis hohes Einkommen. Diese Gesellschaftsgruppe kann als ernährungsbewusst bezeichnet werden, die ethische Kaufentscheidungen trifft und ein großes Interesse daran hat, die eigenen Anliegen zu äußern.

Der auffallende Zusammenhang, der zwischen dem landwirtschaftlichen Sektor und der Klimakrise von den DemonstrantInnen hergestellt wurde, deutet auf eine zunehmende Politisierung des Lebensmittelsystems und des eigenen Konsumverhaltens hin. So konsumiert die Mehrheit der TeilnehmerInnen klimaneutrale(re) und biologische Lebensmittel. Zudem ernährt sich ein großer Teil vegetarisch. Der Konsum von Nahrungsmittel spiegelt die politische Haltung der KonsumentInnen wider und kann als Hebel für BürgerInnen interpretiert werden, der es ermöglicht, den abstrakten und komplexen Bedrohungen des Klimawandels durch ein konkretes Alltagsverhalten entgegenzuwirken.

Die Protestteilnehmenden fordern darüber hinaus eine Agrar- und Ernährungswende auf politischer und nicht nur konsumentenorientierter Ebene. Die Forderung geht über das individuelle und nachhaltige Konsumverhalten hinaus. Sie sehen die Verantwortung stärker bei der Politik, als bei den VerbraucherInnen.

Mitgestaltung einer alternativen Bioökonomie

Die Transformation der Agrarwirtschaft in Richtung einer Bioökonomie bringt Herausforderungen für die gesamte Gesellschaft mit sich und setzt einen gesellschaftlichen Wandel voraus. Werte wie ökologische Nachhaltigkeit, gesundes Essen, fairer Handel, Erhaltung von Biodiversität, sowie Schutz von Tier- und Menschenrechten stehen hier im Vordergrund.

Es verbreiten sich allmählich neue Werte und Ideen, welche einen kulturellen Wandel in Bewegung setzen. Doch scheinen soziale Bewegungen für eine Agrar- und Ernährungswende noch nicht inklusiv genug zu sein, denn ein großer Teil der Gesellschaft fühlt sich davon nicht angesprochen. Hier fehlen oftmals intersektionale Perspektiven, die beispielsweise auch die Arbeitsverhältnisse von Menschen in der Lebensmittelproduktion (bspw. ErntehelferInnen) oder Menschen aus sozio-ökonomischen Verhältnissen, die sich ökologisch produzierte Lebensmittel aktuell nicht leisten können, einschließen.

Dass viele Länder bereits Strategien für die Umsetzung einer Bioökonomie in ihrer politischen Agenda verankert haben, bietet große Chancen für diese Bewegungen Gehör zu finden.

Die hier veröffentlichten Inhalte und Meinungen der Autorinnen und Autoren entsprechen nicht notwendigerweise der Meinung des Wissenschaftsjahres 2020/21 – Bioökonomie.​