Wissenschaftsjahr „Bioökonomie“ im Schatten der Corona-Krise - Wissenschaftsjahr 2020/21 - Bioökonomie

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10.09.2020

Wissenschaftsjahr „Bioökonomie“ im Schatten der Corona-Krise

Kurz & Knapp
  • Aus guten Gründen gilt unsere Aufmerksamkeit derzeit vor allem dem Umgang mit der Corona-Pandemie.
  • Globale Herausforderungen, die uns vor der Krise beschäftigt haben, dürfen dabei jedoch nicht ins Hintertreffen geraten.
  • Bioökonomische Denkansätze können zur Bewältigung der Krise beitragen.

Wissenschaftsjahr „Bioökonomie“ im Schatten der Corona-Krise

Ein Beitrag von Jan Börner, Universität Bonn, Institut für Lebensmittel- und Ressourcenökonomik & Zentrum für Entwicklungsforschung und Ulrich Schurr, Universität Bonn, Institut für Lebensmittel- und Ressourcenökonomik & Zentrum für Entwicklungsforschung

Zum 20. Geburtstag des Wissenschaftsjahres droht das diesjährige Thema „Bioökonomie“ im Schatten der Corona-Krise in den Hintergrund zu rücken. Bioökonomie, die Vision eines nachhaltigen Wirtschafts- und Gesellschaftssystems, das sich zunehmend biologische Prinzipien zunutze macht, erfreut sich dabei trotz oder gerade wegen der Pandemie-Ursachen fast unbemerkt wachsender Beliebtheit.

Fünf Jahre nach der Verabschiedung der Agenda 2030, haben viele Länder immer noch vor allem Absichtserklärungen zur Nachhaltigkeit formuliert – konkrete Umsetzungen bleiben die Ausnahme. Der Bioökonomiediskurs gibt sich dabei erfrischend lösungsorientiert. Stichworte wie „Biologisierung“ stehen für technologiegetriebenen gesellschaftlichen Wandel, der im Zusammenwirken mit anderen Innovationstrends, wie der Digitalisierung, neue nachhaltige Entwicklungspfade ermöglicht.

Davon sollen nicht nur Industrienationen, sondern auch Entwicklungs- und Schwellenländer profitieren. Einige dieser Potenziale werden in der Corona-Pandemie offensichtlich. So eröffnen digitale Werkzeuge und molekularbiologische Erkenntnisse heute neue Wege zur Erforschung des Ursprungs, der Vorbeugung und der Behandlung von COVID-19.

Neue digitale und bio-basierte Technologien bergen – wie alle Technologien – natürlich auch Risiken. Oft überlagert die kontrovers geführte Biotechnologiedebatte jedoch die Diskussion über die notwendige Abkehr von fossilen Rohstoffen zugunsten nachwachsender Rohstoffe und neuartiger biologisch inspirierter Wertschöpfung. Der damit verbundene Transformationsprozess erfordert angepasste gesetzliche Regelwerke und Durchsetzungsmechanismen.

Die Corona-Pandemie zeigt, dass dies möglich ist: Vermeintlich träge Verwaltungsapparate ergreifen radikale Maßnahmen und Regierende geben sich entscheidungsfreudig - in Deutschland stets auf der Basis wissenschaftlicher Erkenntnisse.

Köpfe des Wandels

Jan Börner ist Professor für Ökonomik nachhaltiger Landnutzung und Bioökonomie an der Universität Bonn. Zwischen 2000 und 2012 war er insgesamt sieben Jahre in internationalen wissenschaftlichen Organisationen beschäftigt und leitet aktuell Forschungsaktivitäten mit dem Schwerpunkt Bioökonomie und Landnutzung in Südamerika, Afrika, Südostasien und Europa.

Prof. Dr. Ulrich Schurr leitet das Institut für Pflanzenwissenschaften am Forschungszentrum Jülich, koordiniert das Bioeconomy Science Center und hat die Modellregion BioökonomieRevier initiiert. Er entwickelt mit seinem Team moderne Technologien zur Vermessung von Pflanzen und bringt Forscher aus Natur- und Ingenieurs-, Wirtschafts- und Geisteswissenschaften zusammen, um Lösungen für nachhaltiges Wirtschaften zu entwickeln.

Die sich parallel weiter verschärfenden globalen Herausforderungen, wie Armut und Ungleichheit, Klimawandel und Verlust der Artenvielfalt, werden bisher nicht mit dem gleichen Maß an politischem Engagement angegangen. Die Bedrohung durch ein Virus betrifft uns viel unmittelbarer als der wissenschaftlich ebenso gesicherte Klimawandel, zukünftige Umweltkatastrophen oder soziale Unruhen.

Der weltweite Einschnitt durch die Pandemie stellt auch eine Chance dar. Regierungen, Wirtschaft und Gesellschaften fragen sich nun, wie Wirtschafts- und Sozialsysteme in Zukunft wieder stabilisiert und weniger verwundbar gemacht werden können. Alle werden neue Prioritäten setzen müssen und dabei hoffentlich vermehrt auf die Stimme der Wissenschaft hören.

Die folgenden Prinzipien bioökonomischen Denkens sollten dabei eine Rolle spielen:

1. Systemstabilität durch regionales Handeln und globalen Wissensaustausch:

„Global denken und lokal handeln“ ist eine nachhaltige bioökonomische Vision gesellschaftlichen Wandels, die zu mehr Resilienz (Widerstandskraft) in Wirtschaftskreisläufen beitragen kann. Die Nutzung von Biomasse lässt sich vor Ort mit moderner Verfahrenstechnik optimieren und diversifizieren. Gleichzeitig muss der Zugang zu wissens- und technologiegetriebenen Innovationen für wirtschaftlich schwächere Länder verbessert werden – nicht nur zum Schutz vor humanitären Krisen, sondern auch für gemeinsame Anstrengungen gegen den Klimawandel und als Basis für verlässliche Handelsbeziehungen.

2. Vorsorge durch Vielfalt:

Biologische Prinzipien, wie z. B. die Fähigkeit eines Systems, ausfallende Funktionen durch andere zu ersetzen (funktionelle Redundanz), können auch in Wirtschafts- und Sozialsystemen die Auswirkungen zukünftiger Krisen abfedern. Heute werden wichtige global gehandelte Agrarprodukte, wie zum Beispiel Soja, unter Nutzung weniger Sorten hergestellt. Vielfalt von Sorten in nachhaltigen Produktionssystemen – gefördert durch entsprechende ökonomische Anreizsysteme – können zu einer Verringerung der Risiken von Pflanzenkrankheiten und damit zu globaler Ernährungssicherheit beitragen.

3. Bioökonomie immer mitdenken:

Praktisch jede wirtschafts- und umweltpolitische Entscheidung hat bioökonomische Konsequenzen, sei es in Form von Einschränkungen bei der Verfügbarkeit von Erntehelfern, oder in Gestalt von sozialen und ökologischen Auswirkungen auf die Einfuhr und Nutzung von Biokraftstoffen. Diese komplexen Wirkungszusammenhänge müssen bei der Formulierung und Umsetzung von Politikmaßnahmen zukünftig stärker mitgedacht werden. Ressortübergreifende Entscheidungsprozesse, wie sie der deutschen Politik in den vergangenen Monaten teilweise eindrucksvoll gelungen sind, müssen Standard werden.

4. Auswertungs- und Fehlerkultur:

Evolution und Innovation bedürfen der Möglichkeit, Konzepte zu testen, aus Fehlern zu lernen und dadurch Erfolgsmodelle zu identifizieren. Während und nach der COVID-19 Pandemie werden zusätzliche Anstrengungen bei der risikofreudigen Förderung von unkonventionellen Ideen als wichtige Basis für nachhaltige Innovation und von Modellvorhaben benötigt. Wir brauchen Auswertungsansätze, die exzellente Forschung und Entwicklung an real existierenden Problemstellungen begleiten. Ein Beispiel dafür ist das BioökonomieREVIER Rheinland.

5. Schulterschluss mit sich ergänzenden Nachhaltigkeitsbeiträgen:

Bioökonomie ist nur ein Baustein in der Architektur einer nachhaltigen Zukunft. Derzeit stehen eine Reihe von Transformationsmodellen (z. B. „Green Growth“, „Planetary Health“) im Wettbewerb. Die wissensbasierte Interessenvertretung der Nachhaltigkeit braucht mehr partnerschaftliche Zusammenarbeit zwischen allen beteiligten Akteuren, zu denen nicht nur die aktuell sichtbarsten Initiativen, sondern auch deren Geldgeber und konstruktive Kritiker zählen. Eine nachhaltige Wirtschaftsweise wird ein hybrides System von Konzepten sein, in denen z. B. erneuerbare Energien mit bio-basierten Ansätzen integriert werden.

6. Integrierende Technikfolgenabschätzung:

Ein Weg aus der Krise zur Nachhaltigkeit wird schwerlich ohne technischen Fortschritt zu finden sein. Doch ist Technologisierung weder das Ziel noch der alleinige Lösungsweg dahin. Deshalb müssen wir der Technikfolgenabschätzung und der begleitenden Debatte zu ethischen Grundsätzen den nötigen Vorrang einräumen. Dem Ideal von Wissen als globalem öffentlichen Gut, das nicht nur einem exklusiven Kreis Gutinformierter dient, kann eigentlich nur ein international koordinierter Mechanismus Rechnung tragen. Mit dem International Center for Technology Assessment existiert dafür bereits ein Beispiel in der internationalen Agrar- und damit Bioökonomieforschung.

7. Bio-ökonomisches Konsumverhalten:


Corona lehrt uns alle auch etwas darüber, was wir wirklich zum Leben brauchen. Es geht aber nicht nur darum, unser Konsumverhalten den ökologischen Rahmenbedingungen anzupassen. Gleichzeitig müssen neue wirtschaftliche Mechanismen und Strukturen geschaffen werden, die Menschen in global vernetzten Wertschöpfungssystemen eine produktive gesellschaftliche Teilhabe ermöglichen. Das in diesem Zusammenhang vielversprechende Prinzip der zirkulären Wirtschaft braucht darum auch zusätzlich mehrseitige Anstrengungen auf globaler Ebene.

Die hier veröffentlichten Inhalte und Meinungen der Autorinnen und Autoren entsprechen nicht notwendigerweise der Meinung des Wissenschaftsjahres 2020/21 – Bioökonomie.​