Wissenschaftsjahr 2014 - Die Digitale Gesellschaft

„Bisher ist nicht zu erkennen, dass die Hörsäle in Deutschland durch digitale Formate zukünftig leer stehen“

Im Gespräch mit Jörn Loviscach

Neue Medien wie Massive Open Online Courses (MOOCs) ermöglichen immer mehr Menschen eine andere Art des Lernens – die soziale Rolle von klassischen Hochschulen können sie aber nicht übernehmen, sagt Jörn Loviscach. Mit 14,5 Millionen Youtube-Aufrufen und 38.298 Abonnenten für seine Online-Vorlesungen zählt Prof. Dr. Jörn Loviscach zu den bekanntesten Vorreitern im E-Learning-Bereich. Der Ingenieurmathematiker der Fachhochschule Bielefeld leitet nun auch die Themengruppe Innovationen in Lern- und Prüfungsszenarien des Hochschulforums Digitalisierung und untersucht dabei den sinnvollen Einsatz neuer Technologien im Studium.

Leerer Vorlesungssaal
Bleiben Vorlesungssäle zukünftig leer?

Von vielen werden MOOCs als Revolution des Bildungssystems gesehen, da sie kostenlose und frei verfügbare Lehre für alle Menschen versprechen. Demokratisieren Onlinekurse nun unsere Bildung?

Die Art, auf die in den allermeisten MOOCs versucht wird, Wissen zu vermitteln, geht leider an vielen Menschen vorbei. Die Leute, die teilnehmen, sind häufig bereits akademisch vorgebildet. Und im Allgemeinen darf man zwar kostenlos in Kurse reinschnuppern, für das Zertifikat (mit seiner rechtlich fragwürdigen Bedeutung) am Ende eines bestandenen Kurses muss man aber bezahlen. Daher bedeuten MOOCs keine Demokratisierung der Bildung.

MOOCs sind also eher etwas für Autodidakten?

Mittlerweile gebe ich Professor Rolf Schulmeister recht, der sagt, dass MOOCs nichts für Autodidakten sind. Mir selbst gehen beispielsweise die Quizze in MOOCs auf die Nerven. Es ist vielmehr ein Konzept für Menschen, die eine detaillierte Anleitung brauchen, keines für Autodidakten, die sich wirklich selbständig etwas Neues aneignen wollen. Die mehr oder minder große zeitliche Flexibilität macht MOOCs interessant für Menschen, die im Beruf stehen und bereits ein Studium durchlaufen haben.

Stellen MOOCs neue Anforderungen an Hochschulprofessoren?

Das, was in Deutschland hinter verschlossenen Hörsälen passiert, ist didaktisch oft fragwürdig. Öffnen Hochschullehrende nun die Türen und lassen alle zugucken, sollten sie einen gewissen Ansporn haben, es besser zu machen. MOOCs können also eine Motivation sein, damit Professorinnen und Professoren ihre Lehrveranstaltungen attraktiver gestalten. Vieles ist aber nur eine abgefilmte oder nachgestellte Vorlesung, mit fragwürdigen Quizzen dazwischen.

Welche Erfahrung haben Sie mit dem Einsatz von neuen Medien in der Lehrpraxis gemacht?

Meine Studentinnen und Studenten schauen sich Online-Videos als Vorbereitung auf Lehrveranstaltungen zu Hause an. Während meiner Veranstaltungen konzentriere ich mich dann auf die persönliche Betreuung bei der Aufgabenlösung. Den klassischen Frontalunterricht habe ich schon lange abgeschafft.

Sind Onlinekurse eine echte Konkurrenz für Präsenzunis?

Das hängt nicht zuletzt von der prüfungsrechtlichen Äquivalenz ab – aber bisher ist noch nicht abzusehen, dass die Hörsäle in Deutschland zukünftig leer bleiben werden. Vielmehr mache ich die Erfahrung, dass die soziale Funktion von Hochschulen bislang unterschätzt wurde. Für Erstsemester ist es schwer, mit einem rein elektronischen Format zu arbeiten. Sie benötigen soziale Elemente wie Bestätigung, Kommunikation und Betreuung, die bislang oft unterschätzt werden.

Testen Sie neben MOOCs noch andere neue Lernformate?

Was wir gerade im Mathematik-Brückenkurs erproben, ist ein Format, bei dem wir Studentinnen und Studenten zwei Wochen den ganzen Tag lang an die FH Bielefeld bringen, wo sie in Kleingruppen mit Hilfe von Videos, Wikipedia und was auch immer Aufgaben lösen. Es gibt keine elektronischen Prüfungen, stattdessen führen die Teilnehmerinnen und Teilnehmer dem begleitenden Tutor vor, dass sie die Techniken und die "Denke" beherrschen. Dabei bekommen die Erstsemester eine detaillierte Rückmeldung über ihren Wissensstand und Hinweise zum weiteren Vorgehen. Das kann die Maschine bisher kaum bieten. Unser Experiment zeigt schon nach kurzer Zeit, dass es wichtig ist, solche sozialen Interaktionsformen in die Lehre einzubauen. Das scheint mehr Erfolg zu bringen als rein elektronische Lehrformate. Was wir da machen, ist eine Neuauflage der Lehrmethode von Fred S. Keller aus den 60er Jahren.

Wenn mit MOOCs in Zukunft jeder seinen Abschluss an renommierten Unis wie Harvard, Stanford oder dem Massachusetts Institute of Technology (MIT) machen kann, sterben kleinere Unis dann aus?

Einige US-amerikanischen Universitäten wie San José und Maryland machen bereits Experimente mit Flipped Classrooms. Dort arbeiten die Studentinnen und Studenten mit MOOCs zum Beispiel des MIT und besprechen Fragen und Hausaufgaben dann in den Seminaren an ihren Hochschulen. Die Rolle von Hochschulen könnte sich damit drastisch ändern. Die kleineren Institutionen würden dann nicht komplett verschwinden, sondern eine Art "Franchisenehmer" der großen Hochschulen werden, der MOOCs einkauft und Tutoren für die Betreuung einsetzt. Es könnte dann Hochschulen geben, die eigentlich nur noch Prüfungen abnehmen.

Zur Person

Jörn Loviscach ist Professor für Ingenieurmathematik und technische Informatik an der Fachhochschule Bielefeld. Er forscht an neuen Formen der Hochschullehre und an Software-Unterstützung für den verbundenen Einsatz digitaler Medien und persönlicher Betreuung. Seit 2009 ist er auf YouTube präsent, seit 2012 auf der MOOC-Plattform Udacity. Der promovierte Physiker war zuvor Professor für Computergrafik an der Hochschule Bremen und davor stellvertretender Chefredakteur der Computer-Fachzeitschrift c't. Seit diesem Jahr ist er Themenpate der Gruppe "Innovationen in Lern- und Prüfungsszenarien" im Hochschulforum Digitalisierung.

Über das Hochschulforum Digitalisierung

Das Hochschulforum Digitalisierung ist ein gemeinsames Projekt des Stifterverbandes für die Deutsche Wissenschaft, der Hochschulrektorenkonferenz (HRK) und des CHE Centrum für Hochschulentwicklung unter Einbindung des Bundesministeriums für Bildung und Forschung und der Kultusministerkonferenz. Gefördert wird das Projekt vom Bundesministerium für Bildung und Forschung.

Unter der Leitfrage "Wie sieht Bildung im digitalen Zeitalter aus?" sucht der Stifterverband im Rahmen seines Essaywettbewerbs Auseinandersetzungen mit dem Bildungsbegriff in einer von digitalen Medien geprägten Gesellschaft. Beiträge können noch bis zum 31.10. 2014 eingereicht werden. Zum Wettbewerb

Ein Strategieförderprogramm von Stifterverband und Heinz Nixdorf Stiftung unterstützt deutsche Hochschulen in der Weiterentwicklung und Umsetzung ihrer Digitalisierungsstrategien. Dabei werden acht Hochschulen für einen Zeitraum von zwei Jahren mit je 150.000 Euro gefördert. Interessierte Hochschulen können sich noch bis zum 30.09.2014 für das Programm bewerben. Zum Strategiewettbewerb